Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
Vom Netzwerk:
habe sie in einem Auto über große Entfernung zu dem Heiler gefahren, der sie dann heilte. Sie war immer überzeugt gewesen, daß Don Juan es getan hätte, aber als sie meine Stimme hörte, da habe sie erkannt, daß ich es gewesen sei, der sie dorthin brachte. Das Widersinnige einer solchen Erinnerung habe ihr vom ersten Tage an, als sie mich sah, Qualen bereitet.
    »Meine Ohren belügen mich nicht«, fügte Lydia nach längerem Schweigen hinzu. »Du warst es, der mich hinbrachte.«
    »Unmöglich! Unmöglich!« brüllte ich.
    Mein Körper begann unkontrollierbar zu zittern. Ich hatte ein Gefühl von Gespaltenheit.
    Vielleicht war es so, daß das, was ich mein rationales Selbst zu nennen gewohnt bin, meine übrige Person nicht mehr zu kontrollieren vermochte und den Platz eines Zuschauers einnahm.
    Ein Teil von mir beobachtete, wie ein anderer Teil von mir zitterte.

4. Die Grenzen der Liebe überschreiten

    »Was geht mit uns vor, Gorda?« fragte ich, nachdem die anderen nach Hause gegangen waren.
    »Unsere Körper erinnern sich, aber ich kann einfach nicht herausfinden, was es ist«, sagte sie.
    »Glaubst du denn an die Erinnerungen von Lydia, Nestor und Benigno?«
    »Sicher. Sie sind sehr ernsthafte Menschen. Sie sagen solche Dinge nicht so zum Spaß.«
    »Aber was sie sagen, ist doch unmöglich. Du glaubst mir doch, oder, Gorda?«
    Ach glaube dir, daß du dich nicht erinnerst, aber andererseits ... «
    Sie beendete ihren Satz nicht. Sie kam an meine Seite und fing an mir ins Ohr zu flüstern. Sie sagte, es gebe da etwas, das sie für sich zu behalten dem Nagual Juan Matus versprochen habe, bis der rechte Zeitpunkt gekommen wäre; ein Trumpf, den sie nur ausspielen dürfe, wenn es sonst keinen Ausweg mehr gäbe. Dramatisch flüsternd fügte sie an, der Nagual habe ihre neue Ordnung des Zusammenlebens vorausgesehen, die sich daraus ergeben habe, daß ich Josefina nach Tula brachte, damit sie mit Pablito zusammenlebe. Es gäbe wohl eine geringe Chance, sagte sie, daß wir es als Gruppe schafften, wenn wir die natürliche Ordnung dieser Organisationsform einhielten. La Gorda erklärte, daß wir, da wir nun zu Paaren aufgeteilt waren, einen lebenden Organismus bildeten. Wir waren eine Schlange, eine Klapperschlange.
    Die Schlange hatte vier Abschnitte und war der Länge nach in zwei Hälften, eine männliche und eine weibliche, geteilt. Sie selbst und ich, erklärte sie, bildeten den ersten Abschnitt der Schlange, den Kopf. Es sei ein kühler, berechnender, giftiger Kopf. Der zweite Abschnitt, den Nestor und Lydia bildeten, war das feste und aufrechte Herz der Schlange. Der dritte war der Bauch, ein unbeständiger, launischer, wenig vertrauenswürdiger Bauch, bestehend aus Pablito und Josefina. Und den vierten Abschnitt, den Schwanz, wo die Klapper saß, bildeten jene beiden, die im wirklichen Leben endlos und stundenlang in seiner Tzotzilsprache Drauflosplappern konnten, nämlich Benigno und Rosa.
    La Gorda richtete sich aus der gebückten Haltung auf, in der sie mir ins Ohr geflüstert hatte. Sie lächelte mir zu und klopfte mir den Rücken.
    »Ein Wort sagte Eligio, das mir endlich wieder eingefallen ist«, fuhr sie fort. »Josefina stimmt mit mir überein, daß er das Wort Fährte immer wieder und wieder sagte. Wir werden auf eine Fährte gehen!«
    Ohne mir Gelegenheit zu lassen, ihr weitere Fragen zu stellen, meinte sie, daß sie nun eine Weile schlafen und danach die anderen zusammenrufen werde, um einen Ausflug zu machen.
    Kurz vor Mitternacht brachen wir auf, und wir wanderten im hellen Mondschein. Anfangs hatten sie alle gezögert mitzugehen, aber la Gorda hatte ihnen recht geschickt das angeblich von Don Juan stammende Bild der Schlange skizziert. Bevor wir aufbrachen, machte Lydia den Vorschlag, wir sollten etwas Proviant mitnehmen, für den Fall, daß es ein langer Ausflug werden würde. La Gorda verwarf den Vorschlag mit der Begründung, daß wir ja keine Ahnung von der Art dieses Ausflugs hätten. Einmal, so sagte sie, habe der Nagual Juan Matus sie an den Anfang eines Pfades geführt und ihr gesagt, daß wir, wenn die rechte Gelegenheit gekommen wäre, uns an diesen Ort begeben und der Kraft der Fährte erlauben sollten, sich uns zu offenbaren. Dieser Pfad, so sagte la Gorda, sei nun nicht mehr ein gewöhnlicher Trampelpfad, sondern eine natürliche Linie auf der Erde, die, wie der Nagual gesagt habe, uns Kraft und Wissen schenken würde, wenn es uns gelänge, ihr zu folgen und mit ihr eins zu

Weitere Kostenlose Bücher