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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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werden.
    Wir wanderten unter zweifacher Führung. La Gorda gab das Tempo an, und Nestor kannte tatsächlich das Gelände. Sie führte uns zu einem Platz in den Bergen. Dann übernahm Nestor die Führung und machte tatsächlich einen Pfad ausfindig. Unsere Marschordnung war klar; der Kopf übernahm die Führung, die anderen reihten sich nach dem anatomischen Modell der Schlange auf: Herz, Bauch und Schwanz. Die Männer gingen rechts von den Frauen. Jedes Paar ging fünf Fuß hinter dem anderen.
    Wir marschierten so rasch und so leise wir konnten. Eine Weile hörten wir Hunde bellen. Als wir höher in die Berge hinaufgelangten, war nur noch das Zirpen der Grillen zu hören. So gingen wir lange dahin. Auf einmal blieb la Gorda stehen und packte mich am Arm. Sie deutete nach vorn. Zwanzig bis dreißig Meter entfernt, mitten auf dem Pfad, stand die massige Silhouette eines riesigen Mannes, über zwei Meter groß. Er verstellte uns den Weg. Wir drängten uns zu einer festen Gruppe zusammen. Unsere Augen waren an die dunkle Gestalt fixiert. Er bewegte sich nicht. Nach einiger Zeit tat Nestor ein paar Schritte in seine Richtung.
    Erst jetzt bewegte er sich. Er kam uns entgegen. Soviel ich sah, war er ein riesiger Mann, aber er bewegte sich schwächlich.
    Nestor kam zurückgerannt. Im gleichen Moment, als er unsere Gruppe erreichte, blieb der Mann stehen. La Gorda tat kühn einen Schritt auf ihn zu, und der Mann tat einen Schritt zu uns her.
    Es war klar, daß wir, wenn wir weiter vorangingen, mit dem Riesen zusammenprallen würden.
    Wir waren ihm nicht gewachsen, was immer er sein mochte. Ohne weiter herausfinden zu wollen, ob es sich tatsächlich so verhielt, ergriff ich die Initiative und zog die anderen zurück.
    Rasch geleitete ich sie von diesem Ort weg.
    In völligem Schweigen wanderten wir zu la Gordas Haus zurück. Wir brauchten Stunden für den Weg. Wir waren völlig erschöpft. Als wir in la Gordas Zimmer endlich in Sicherheit waren, sprach sie:
    »Wir sind zum Tod verurteilt«, sagte sie. »Du wolltest ja nicht, daß wir weitergingen. Das Ding, das wir auf der Fährte sahen, war einer deiner Verbündeten, nicht wahr? Sie kommen aus ihrem Versteck, wenn du sie hervorlockst.«
    Ich ließ ihre Bemerkung unbeantwortet. Es war sinnlos, Einwände zu machen. Ich dachte an die unzähligen Male, als ich glaubte, daß Don Juan und Don Genaro sich untereinander abgesprochen hätten. Während Don Juan mit mir in der Dunkelheit sprach, so meinte ich damals, zog Don Genaro sich irgendein Kostüm an, um mich zu erschrecken, und dann behauptete Don Juan, es sei ein Verbündeter gewesen. Die Vorstellung, daß es Verbündete oder überhaupt Wesen geben sollte, die sich unserer alltäglichen Aufmerksamkeit entziehen, erschien mir gar zu weit hergeholt. Dann aber hatte ich erleben müssen, daß die Verbündeten, wie Don Juan sie schilderte, tatsächlich existierten; es gab, wie er gesagt hatte, ganz allgemein solche Wesenheiten auf der Welt.
    In einem Anfall von autoritärem Verhalten, wie es mich im Alltag selten ankommt, stand ich auf und teilte la Gorda und den anderen mit, ich hätte ihnen einen Vorschlag zu machen und würde es ihnen selbst überlassen, ob sie ihn annehmen wollten oder nicht. Falls sie bereit wären, von hier fortzugehen, wäre ich bereit, die Verantwortung zu übernehmen und sie an einen anderen Ort zu führen. Falls sie nicht bereit wären, fühlte ich mich von jeder weiteren Verpflichtung ihnen gegenüber befreit.
    Ich schwebte auf einer Flut von Optimismus und Sicherheit. Keiner sagte etwas. Sie sahen mich schweigend an, als ob sie bei sich über meine Worte nachdächten.
    »Wie lange würdet ihr brauchen, um eure Sachen zu holen?« fragte ich.
    »Wir haben keine Sachen«, sagte la Gorda. »Wir gehen so, wie wir sind. Und wir können sofort, in diesem Augenblick gehen, wenn es nötig sein sollte. Aber wenn wir noch drei Tage warten könnten, dann wäre alles besser für uns.«
    »Was ist mit den Häusern, die ihr habt?« fragte ich. »Soledad wird sich darum kümmern«, sagte sie.
    Dies war das erste Mal, daß Dona Soledads Name fiel, seit ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. Ich war so perplex, daß ich für eine Weile das Drama des Augenblicks vergaß. Ich setzte mich hin. La Gorda zögerte, meine Fragen nach Dona Soledad zu beantworten. Nestor mischte sich ein und sagte, daß Soledad irgendwo in der Nähe sei, daß aber keiner von ihnen Näheres über sie wisse. Sie käme und ginge ohne Ankündigung,

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