Die Kunst des Pirschens
ich ja wieder gesund geworden.
»Was für eine Krankheit soll ich denn gehabt haben, Rosa?« fragte ich.
»Du wurdest krank, weil du deine Welt nicht festhalten konntest«, sagte sie mit unbedingter Überzeugung. »Irgend jemand sagte mir, ich glaube, es war vor langer Zeit, daß du nicht für uns geschaffen seist, genau wie Eligio es beim Träumen zu la Gorda gesagt hat. Deswegen hast du uns verlassen, und Lydia hat dir nie verziehen. Sie wird dich hassen, noch über diese Welt hinaus.«
Lydia protestierte und meinte, daß ihre Gefühle gar nichts mit dem zu tun hätten, was Rosa sagte. Sie sei lediglich aufbrausend und gerate leicht in Zorn über meine Dummheiten.
Ich fragte Josefina, ob auch sie sich an mich erinnern könne.
»Sicher tu ich das«, sagte sie grinsend. »Aber du kennst mich ja, ich bin verrückt. Auf mich könnt ihr nicht zählen. Ich bin nicht zuverlässig.«
La Gorda bestand darauf zu hören, woran Josefina sich erinnerte. Josefina war entschlossen, nichts zu sagen, und so stritten sie eine Weile hin und her; schließlich sprach Josefina zu mir.
»Was soll dieses ganze Gerede über das Erinnern? Es ist bloß Gerede«, sagte sie. »Und es ist keinen Pfifferling wert.«
Damit hatte Josefina wohl einen Punkt gegen uns gewonnen. Die anderen standen auf und wollten gehen, nachdem sie noch eine Weile in höflichem Schweigen dagesessen hatten.
»Ich erinnere mich, daß du mir schöne Kleider gekauft hast«, sagte Josefina plötzlich zu mir.
»Erinnerst du dich nicht mehr, wie ich in dem einen Kaufhaus die Treppe hinunterfiel? Ich brach mir beinahe das Bein, und du mußtest mich hinaustragen.«
Alle setzten sich wieder und starrten Josefina unverwandt an.
»Ich erinnere mich auch an eine verrückte Frau«, fuhr sie fort. »Sie wollte mich schlagen, sie hetzte mich durch die Gegend, bis du wütend wurdest und sie daran hindertest.«
Ich war empört. Alle schienen sie sich an Josefinas Worte zu klammern, während sie uns vorhin selbst gesagt hatte, wir dürften ihr nicht vertrauen, weil sie verrückt sei. Sie hatte recht. Ihre Erinnerung schien mir eine schiere geistige Verwirrung.
»Ich weiß auch, warum du krank wurdest«, fuhr sie fort. »Ich war dabei. Aber ich kann mich nicht erinnern, wo es war. Sie brachten dich hinter diese Nebelwand, um die närrische Gorda zu suchen.
Ich nehme an, sie hatte sich verirrt. Und du fandest den Rückweg nicht. Als sie dich herausbrachten, warst du halb tot.«
Das Schweigen, das auf ihre Enthüllungen folgte, war bedrückend. Ich fürchtete mich, eine Frage zu stellen.
»Ich kann mich nicht erinnern, warum in aller Welt sie dort hineingegangen war oder wer dich zurückholte«, fuhr Josefina fort. »Ich erinnere mich nur, daß du krank warst und mich nicht mehr erkanntest. Die närrische Gorda hier schwört, daß sie dich nicht erkannte, als du vor ein paar Monaten zum erstenmal in dieses Haus kamst. Ich erkannte dich sofort. Ich erinnerte mich: Du bist der Nagual, der krank geworden war. Soll ich dir etwas sagen? Ich glaube, diese Frauen lassen sich einfach gehen. Und die Männer genauso, besonders dieser närrische Pablito. Sie müssen sich doch erinnern. Sie waren auch dabei.«
»Kannst du dich erinnern, wo wir waren?« fragte ich.
»Nein, kann ich nicht«, sagte Josefina. »Ich werde es aber wissen, wenn du mich hinführst. Als wir alle dort waren, nannten sie uns immer >die Besoffenen<, weil wir dauernd völlig schlaff waren. Ich war noch die am wenigsten Benebelte von allen, darum kann ich mich ganz gut erinnern.«
»Wer nannte uns >die Besoffenen« fragte ich.
»Dich nicht, nur uns«, erwiderte Josefina. »Ich weiß nicht, wer. Der Nagual Juan Matus, vermute ich.«
Ich sah sie der Reihe nach an, und alle wichen sie meinem Blick aus.
»Wir kommen ans Ende«, murmelte Nestor, als spräche er mit sich selbst. »Unser Ende starrt uns in die Augen.« Er schien drauf und dran, in Tränen auszubrechen. »Ich sollte stolz und glücklich sein, daß wir das Ende erreicht haben«, fuhr er fort. »Und doch bin ich traurig. Kannst du mir das erklären, Nagual?«
Auf einmal waren sie alle traurig. Sogar die trotzige Lydia war traurig.
»Was ist nur los mit euch allen?« fragte ich in gesprächiger Laune. »Von was für einem Ende redet ihr da?«
»Ich glaube, alle wissen, was für ein Ende es ist«, sagte Nestor. »Ich habe so komische Gefühle in letzter Zeit. Irgend etwas ruft uns. Und wir machen uns nicht frei, wie wir's sollten. Wir klammern uns
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