Die Kunst des Pirschens
mir ein paar Fragen beantworten können. Endlich brach sie ihr Schweigen und äußerte Dinge, die mir völlig absurd erschienen. Sie sagte, sie habe mich tatsächlich angegriffen, wie ich sie an jenem Tag, als wir zum erstenmal die parallelen Linien überschritten, gebeten hätte; und jetzt hoffe sie nur, daß ihr Angriff wirksam gewesen sei und seinen Zweck erfüllt habe. Ich wollte schon losbrüllen, daß ich keine Ahnung hätte, wovon zum Teufel sie redete. Ich wußte nichts von irgendwelchen parallelen Linien und hatte sie nie um irgend etwas gebeten. Sie drückte mir die Hand auf den Mund. Ich fuhr unwillkürlich zurück. Sie schien traurig. Sie sagte, daß es für uns keine Möglichkeit gebe, miteinander zu sprechen, weil wir uns in diesem Augenblick auf zwei parallelen Linien befänden und keiner von uns die Energie habe, auf die andere überzusetzen.
Nur ihre Augen, so sagte sie, könnten mir ihre Stimmung verraten.
Ohne jeden Grund fühlte ich mich auf einmal entspannt; irgend etwas in mir fühlte sich behaglich. Ich merkte, daß mir die Tränen über die Wangen rollten. Und dann ergriff eine ganz unglaubliche Empfindung für einen Moment von mir Besitz; es war nur ein kurzer Moment, aber lang genug, um die Grundlagen meines Bewußtseins oder meiner Person zu erschüttern-oder jedenfalls das, was ich für den Mittelpunkt meines Selbst halte. In diesem kurzen Augenblick wußte ich, daß wir in unserm Wollen und unseren Temperamenten einander sehr nahe waren. Unsere Situation war die gleiche. Ich wollte ihr zu verstehen geben, daß es ein furchtbarer Kampf gewesen sei, daß aber der Kampf noch nicht zu Ende sei, ja, daß er niemals zu Ende sein würde. Sie sagte mir Lebewohl, weil sie als die makellose Kriegerin, die sie war, wohl wußte, daß unsere Wege sich nie wieder kreuzen würden. Wir waren ans Ende einer Fährte gelangt. Eine vergebliche Woge der Zuneigung, der Verbundenheit brach aus irgendeiner unfassbaren Tiefe meiner selbst hervor. Dieser helle Blitz war wie eine elektrische Entladung in meinem Körper. Ich umarmte sie, mein Mund bewegte sich und sagte Dinge, die keinerlei Sinn für mich hatten. Ihre Augen leuchteten auf. Auch sie sagte etwas, das ich nicht verstand. Die einzige Empfindung, die mir klar war, nämlich daß ich die parallelen Linien überschritten hatte, war für mich ohne praktische Bedeutung. Es gab eine angestaute Angst in mir, die hinausdrängte. Eine unerklärliche Kraft spaltete mich entzwei. Ich konnte nicht atmen, und alles wurde schwarz.
Ich spürte, wie irgend jemand mich bewegte, mich sanft rüttelte. Allmählich zeichnete sich la Gordas Gesicht ab. Ich lag in Dona Soledads Bett, und la Gorda saß neben mir. Wir waren allein.
»Wo ist sie?« fragte ich.
»Sie ist fortgegangen«, erwiderte la Gorda.
Ich wollte la Gorda alles erzählen. Sie unterbrach mich. Sie stieß die Tür auf. Draußen standen alle anderen Lehrlinge und warteten auf mich. Sie hatten ihre abgerissensten Klamotten angezogen. La Gorda erklärte, sie hätten alles, was sie besaßen, zerrissen. Es war später Nachmittag. Ich hatte viele Stunden geschlafen. Ohne ein Wort zu sprechen, gingen wir zu la Gordas Haus, wo ich den Wagen geparkt hatte. Sie drängelten hinein wie Kinder, die einen Sonntagsausflug vorhaben.
Bevor ich in den Wagen einstieg, blieb ich einen Moment stehen und betrachtete das Tal. Mein Körper drehte sich langsam herum und beschrieb einen geschlossenen Kreis, als hätte er einen eigenen Willen, eine eigene Absicht. Ich spürte, daß ich das Wesen dieses Ortes einfing. Ich wollte ihn in mich aufnehmen, denn ich wußte, daß ich ihn niemals in diesem Leben wiedersehen würde.
Die anderen hatten dies wohl schon getan. Sie waren frei von Traurigkeit, sie lachten und hänselten einander.
Ich ließ den Motor an und fuhr los. Als wir die letzte Kurve der Straße erreichten und die Sonne unterging, kreischte la Gorda, ich solle anhalten. Sie stieg aus und lief zu einem kleinen Hügel neben der Straße hinüber. Sie stieg hinauf und warf einen letzten Blick über das Tal. Sie reckte ihre Arme nach ihm und atmete es förmlich ein.
Die Fahrt aus diesen Bergen hinaus war merkwürdig kurz und verlief gänzlich ereignislos. Alle waren still. Ich versuchte la Gorda in ein Gespräch zu ziehen. Sie weigerte sich einfach; sie sagte, die Berge seien besitzergreifend und würden sie als ihr Eigentum betrachten. Wenn sie alle daher nicht mit ihrer Energie sparsam umgingen, würden die Berge sie
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