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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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sie zu erfüllen, hätte ich bereitwillig den Tod auf mich genommen. Entschlossen widmete ich mich der Aufgabe, la Gorda zu leiten und zu fördern, während sie die Schliche des modernen Großstadtlebens erlernte; sie lernte sogar Englisch. Ihre Fortschritte waren phänomenal.
    Drei Monate vergingen, ohne daß etwas Besonderes geschah. Aber eines Tages, ich war in Los Angeles, erwachte ich kurz nach Mitternacht mit einem unerträglichen Druck im Kopf. Es war kein Kopfschmerz, eher war es eine sehr intensive Last auf meinen Ohren. Ich spürte sie auf den Augenlidern und an meiner Gaumenplatte. Ich wußte, daß ich Fieber hatte, aber das Hitzegefühl war nur in meinem Kopf. Ich machte einen schwachen Versuch, mich aufrechtzusetzen. Dann kam mir der Gedanke in den Sinn, daß ich vielleicht einen Schlaganfall hatte. Meine erste Reaktion war, um Hilfe zu rufen, aber irgendwie beruhigte ich mich und versuchte, meine Angst loszuwerden. Nach einer Weile begann der Druck in meinem Kopf nachzulassen, aber nun verlagerte er sich in meine Kehle. Ich rang keuchend nach Luft und würgte und hustete eine Weile. Dann wanderte der Druck langsam in meinen Brustkorb, dann in meinen Bauch, dann in die Lenden, in die Beine und in meine Füße, bevor er schließlich meinen Körper verließ.
    Was immer da mit mir passiert sein mochte, es hatte jedenfalls zwei Stunden gedauert. Während dieser zwei zermürbenden Stunden war es, als ob tatsächlich irgend etwas in meinem Körper abwärts wanderte und aus mir hinausdrängte. Ich stellte mir vor, daß es sich wie ein Teppich aufrollte. Ein anderer Vergleich, der mir in den Sinn kam, war eine Blase, die sich in meiner Leibeshöhle bewegte. Ich verwarf dieses Bild aber wieder zugunsten des ersten, denn das Gefühl war so ähnlich, wie wenn etwas sich um sich selbst wickelt. Ähnlich wie ein aufgerollter Teppich wurde es immer schwerer, je weiter es nach unten wanderte. Die zwei Stellen, wo der Schmerz unerträglich wurde, waren meine Knie und meine Füße, besonders mein rechter Fuß, der noch fünfunddreißig Minuten lang heiß blieb, nachdem der Schmerz und der Druck verschwunden waren.
    Nachdem la Gorda sich meine Erzählung angehört hatte, sagte sie, daß ich diesmal ganz gewiß meine menschliche Form verloren hätte, daß ich alle meine Schutzschilde, oder doch die meisten, abgeworfen hätte. Ohne zu wissen wie, oder sogar ohne mir darüber klarzuwerden, fand ich mich in einer höchst befremdlichen Lage. Ich fühlte mich leidenschaftslos, unvoreingenommen. Es war mir gleichgültig, was la Gorda mir angetan hatte. Es war nicht so, als hätte ich ihr jenes schändliche Verhalten, das sie mir damals gezeigt hatte, verziehen; vielmehr war es so, als hätte es niemals einen Verrat gegeben. Ich hegte keinen offenen oder geheimen Groll mehr gegen la Gorda - und auch gegen niemand anderes. Was ich empfand, war nicht negative Gleichgültigkeit oder eine Lustlosigkeit zu handeln. Es war auch keine verzweifelte Einsamkeit oder auch nur der Wunsch, allein zu sein. Vielmehr war es ein fremdartiges Gefühl der Zurücknahme; eine Fähigkeit, ganz in den Augenblick einzutauchen und keinerlei Gedanken an irgend etwas anderes zu haben. Die Handlungen anderer Menschen betrafen mich nicht mehr, denn ich hatte keinerlei Erwartungen mehr. Ein seltsamer Frieden war die beherrschende Kraft meines Lebens geworden. Ich spürte, daß ich irgendwie eine der mit dem Leben eines Kriegers verbundenen Vorstellungen angenommen hatte, die Losgelöstheit. La Gorda meinte, daß ich mehr getan hätte, als sie nur anzunehmen, daß ich sie wirklich verkörperte.
    Don Juan und ich hatten lange Gespräche über die Möglichkeit geführt, daß ich eines Tages genau dies tun würde. Er hatte gesagt, daß die Losgelöstheit nicht automatisch Weisheit bedeute, daß sie aber gleichwohl ein Vorteil sei, weil sie dem Krieger erlaube, einen Moment auszusetzen, um Situationen zu beurteilen, Standpunkte zu überdenken. Um dieses zusätzliche Moment jedoch vernünftig und richtig zu nutzen, sagte er, sei es notwendig, daß ein Krieger sich sein Leben lang unablässig bemühte.
    Ich hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, daß ich dieses Gefühl der Unvoreingenommenheit je erleben würde. Was mich betraf, so war es mir unmöglich, es zu improvisieren. Es war mir sinnlos erschienen, mir die damit verbundenen Vorteile vorzustellen oder an die Möglichkeit zu denken, daß es sich einmal bei mir einstellen würde. Gewiß hatte ich im Lauf der

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