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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Darüber wußte er selbst nichts. Er hielt es für das Produkt einer Art pan-indianischer Kultur. Was den Ursprung dieses Wissens betraf, so vermutete er, daß einst, in der indianischen Welt vor der Konquista, die Beschäftigung mit der zweiten Aufmerksamkeit aus der Übung gekommen sei. Über tausend Jahre lang hatte sie sich ohne Einschränkung entwickelt - bis zu einem Punkt, da sie ihre Kraft verlor. Die Praktiker jener Zeit empfanden möglicherweise nicht die Notwendigkeit irgendwelcher Kontrollen, und so wurde die zweite Aufmerksamkeit nicht stärker, sondern - aufgrund zunehmender Kompliziertheit - schwächer. Dann kamen die spanischen Invasoren und zerstörten mit Hilfe ihrer überlegenen Technik die Welt der Indianer.
    Don Juan sagte, sein Wohltäter sei davon überzeugt gewesen, daß damals nur eine Handvoll dieser Krieger überlebten und in der Lage waren, ihr Wissen erneut zu sammeln und ihren Weg neu zu bestimmen. Was Don Juan und sein Wohltäter über die zweite Aufmerksamkeit wußten, war nun diese rekonstruierte Version, eine neue Version, die ihre eingebauten Einschränkungen hatte, weil sie unter den härtesten Bedingungen der Unterdrückung entstanden war.

10. Der Kriegertrupp des Nagual
    Als Don Juan der Meinung war, daß der rechte Zeitpunkt für meine erste Begegnung mit seinen Kriegern gekommen sei, ließ er mich auf die andere Ebene der Bewußtheit überwechseln. Dann stellte er eindeutig klar, daß er keinen Einfluß darauf hätte, wie sie mich behandeln würden. Er versicherte mir, daß er sie, falls sie beschließen sollten, mich zu schlagen, nicht daran hindern könne. Sie könnten mit mir machen, was sie wollten, außer mich töten. Er betonte immer wieder, daß die Krieger seines Trupps eine perfekte Kopie des Trupps seines Wohltäters seien, nur daß einige der Frauen noch wilder und alle Männer ganz einzigartig und mächtig wären.
    Darum könnte meine erste Begegnung mit ihnen zu einem brutalen Zusammenstoß geraten.
    Ich war einerseits nervös und ängstlich, andererseits aber mehr als neugierig. Meine Gedanken kreisten wie wild um endlose Spekulationen, meist um die Frage, wie diese Leute aussehen mochten.
    Don Juan sagte, er habe nun die Wahl, mich ein kompliziertes Ritual einüben und auswendig lernen zu lassen, wie er es hatte tun müssen, oder die Begegnung so beiläufig wie möglich zu gestalten. Er wartete auf ein Omen, das ihm zeigte, für welche der beiden Möglichkeiten er sich entscheiden sollte. Sein Wohltäter hatte es ähnlich gemacht, nur hatte er verlangt, daß Don Juan das Ritual erlerne, bevor das Omen sich einstellte. Als Don Juan ihm dann seinen sexuellen Tagtraum, mit vier Frauen zu schlafen, verriet, deutete sein Wohltäter dies als Omen, er setzte sich über das Ritual hinweg und mußte schließlich wie ein Viehhändler um Don Juans Leben feilschen.
    In meinem Fall wünschte Don Juan sich ein Omen, bevor er mich das Ritual lehren wollte.
    Einmal, als Don Juan und ich durch eine Stadt an der Grenze fuhren, hielt ein Polizist mich an.
    Er hatte Verdacht geschöpft, als ich, über einen anderen Autofahrer empört, laut auf die Hupe drückte. Der Polizist hielt mich für einen illegal eingereisten Ausländer und wollte sich meine Erklärungen gar nicht anhören. Erst nachdem ich ihm meinen Paß, den er für gefälscht hielt, und noch andere Dokumente gezeigt hatte, ließ er mich weiterfahren. Don Juan hielt diesen Zwischenfall für das Omen, auf das er gewartet hatte. Er hatte die ganze Zeit neben mir auf dem Beifahrersitz gesessen, und der Polizist hatte ihn keines Blickes gewürdigt. Er hatte sich nur auf mich konzentriert. Don Juan deutete das Omen in dem Sinn, daß es zeigte, wie schädlich es für mich sei, die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken; daraus folgerte er, daß meine Welt von großer Einfachheit und Selbstverständlichkeit sein müsse - komplizierte Rituale und Pomp entsprächen nicht meinem Charakter. Er räumte aber ein, daß eine gewisse Einhaltung ritueller Formen am Platz sei, wenn ich mit seinen Kriegern Bekanntschaft machte. Ich sollte damit anfangen, daß ich mich ihnen von Süden näherte, denn dies sei die Richtung, in die der ununterbrochene Fluß der Kraft verläuft. Die Lebenskraft fließt uns vom Süden zu, und wenn sie uns verläßt, fließt sie nach Norden. Er sagte, der einzige Zugang zur Welt eines Nagual sei von Süden her, und die Pforte werde von zwei Kriegerinnen gebildet, die mich begrüßen und mich einlassen würden, falls

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