Die Kunst des Sterbens: Thriller (German Edition)
hatten. Angesichts des vertrauten Anblicks und ihrer gediegenen Alltäglichkeit war er zum ersten Mal wirklich verzweifelt. Zwei Männer waren bereits gestorben, und ihm fiel nichts ein, was ihn davor bewahren sollte, die Nummer drei zu sein.
Das unerbittliche Licht war schlimmer als die Dunkelheit zuvor, denn es ließ keinen Raum für Illusionen. Das hier passierte wirklich, und es passierte jetzt, und es würde nicht gut ausgehen.
Er tastete unter dem braunen Ärmel nach seiner Uhr. Es war jetzt zwei. Er wurde von einer bleiernen Müdigkeit erfasst, aber er wusste, dass er nicht schlafen konnte, nicht hier, während sich dieser Mann irgendwo dicht hinter der Tür aufhielt. Er blieb wach, weil er Angst hatte, nicht weil er wollte. Wer war dieser Mann? Wer hatte ihn ausgebildet? Er war nicht bloß ein Schläger. Er hatte sein Handwerk von Dritten gelernt. Es handelte sich um eine bestimmte Technik, und er war ein Techniker.
Höchstwahrscheinlich bereitete er sich auf mehr vor. Das eben war vielleicht nur der Auftakt gewesen, bevor es richtig zur Sache ging, und einen schrecklichen Moment lang stellte Webster sich vor, was ihn wohl erwartete; er sah eine Reisetasche voller rostiger Werkzeuge, und wie der Peiniger mit der Sonnenbrille sich in aller Ruhe eines davon aussuchte. Doch in dem Gedanken lag auch ein Hauch Trost, denn wenn sie Informationen wollten, würden sie ihn noch nicht töten. Der einzige Moment der Hoffnung während seines Verhörs war gewesen, als er den Namen Chiba erwähnt hatte. Der hatte sie aufhorchen lassen; das wusste er. Warum sollten sie ihm sonst sagen, dass er nicht die geringste Ahnung habe?
Webster schloss die Augen, kämpfte gegen die Schmerzen an und versuchte nachzudenken. Sie hatten recht: Er schien jetzt weniger zu wissen als vorher. Er war der Antwort auf die Frage, die ihn nach Marrakesch geführt hatte, kein Stückchen näher gekommen. Obwohl er diesen Leuten über den Weg gelaufen war, hatte er immer noch keine Ahnung, wer Darius Qazai verfolgte.
Stattdessen versuchte er, die Dinge aus ihrem Blickwinkel zu betrachten. Für wen hielten ihn diese Leute, und was wollten sie von ihm? Irgendwann hatten sie ihn in der Stadt entdeckt und waren ihm gefolgt. Man hatte ihn niedergeschlagen und hierhergebracht. Es war nur schwer vorstellbar, dass sie lediglich eine günstige Gelegenheit ausgenutzt hatten: Offensichtlich hatten sie den Unfall geplant. Also, das wurde ihm jetzt endlich klar, wussten sie höchstwahrscheinlich schon, dass er in Marrakesch war, bevor er sich an Qazais Fersen geheftet hatte. Wussten, dass er kommen würde, und hatten Vorbereitungen für ihn getroffen. Darum kannten sie auch seinen Namen.
Mit einer Klarheit, die greller war als das Licht um ihn herum, begriff er plötzlich: Sie hielten ihn für einen von Qazais Leuten. Für seinen Detektiv, seinen Spion, seinen Sicherheitsmann. Falls sie in den letzten Monaten seine Bewegungen überwacht hatten, sein Telefon oder seine Konten, hätten sie herausgefunden, dass Webster offensichtlich nach der Pfeife seines Klienten tanzte. Warum sonst war er nach Marrakesch gekommen – ausgerechnet einen Tag vorher –, wenn nicht, um sich zu vergewissern, dass Qazai hier sicher war, und um Maßnahmen gegen seine Gegner zu ergreifen?
Im sicheren London hätte ihn die Ironie des Ganzen vielleicht amüsiert. Mehr war gestorben, Timur war gestorben, und jetzt würde er als ein Getreuer Qazais sterben, nur damit sein Auftraggeber davon überzeugt wurde, zu bezahlen, was er anderen schuldete, oder sich an seinen Vertrag zu halten oder zurückzugeben, was nicht ihm gehörte. Webster war so stur, dass er sich selbst jetzt noch ärgerte, weil er im Einsatz für Qazai seinen Tod finden würde, für immer seinen Interessen verpflichtet, ohne allerdings ganz zu verstehen, auf welche Weise.
Aber das war kein unabwendbares Schicksal. Es musste einen Ausweg geben. Qazais Feinde waren nicht unbedingt Websters Freunde, aber wenn sie wenigstens wüssten, dass es keinen Zweck hatte, ihn zu töten – dass Qazai sich wohl eher darüber amüsiert hätte, statt es zu bedauern –, vielleicht würden sie es überdenken, sich so viel Mühe zu machen. Falls es ihnen Mühe bereitete.
Webster schüttelte den Kopf, machte sich Vorwürfe, weil er so wirklichkeitsfremd war. Er lebte noch, weil diese Leute in Erfahrung bringen wollten, was er wusste, allein aus diesem Grund, und seine einzige Hoffnung bestand darin, ihnen irgendetwas Brauchbares
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