Die Kunst engagierter Gelassenheit
räumliche Distanz hilfreich. In einem Seminar sprach ein Teilnehmer vom »Eiger-Grindelwald-Effekt«. Die Eiger-Nordwand in ihrer Ganzheit können wir nicht sehen, wenn wir unmittelbar vor ihr stehen. Wohl aber, wenn wir ein paar Kilometer Abstand nehmen und ins nächste Dorf marschieren. Genauso brauchen wir Distanz für die Selbstbetrachtung.
Eine Freundin, die als Seelsorgerin in einem Krankenhaus wirkt und täglich mit viel Leid konfrontiert ist, geht zur eigenen Psychohygiene öfters in die Zürcher Sternwarte guckt mit dem Teleskop ins weite, unendliche Universum hinaus. Auch wissenschaftliche Untersuchungen zeigen eine intensive positive Wechselwirkung zwischen der Gelassenheit und der Betrachtungsweise der Welt und des Lebens in einem sehr weiten Horizont. Wir werden da gelassen, wo wir weiter blicken, den Alltag und die momentane Lage, das Heute, Gestern und Morgen, die Familie, das Dorf und das Land in einen größeren Kontext stellen.
Loslassen gelingt auch, indem wir unsere eigene Biografie und die Weltgeschichte in den Blick nehmen und die Erfahrung machen, dass es das Schicksal in den meisten Fällen gut mit uns meint:
»Beim Loslassen hilft mir die Erfahrung und das Wissen, dass es bisher immer geklappt hat – so nach dem Motto: Es ist noch immer jeden Tag eine Zeitung erschienen.« (Redakteur, 38 Jahre)
»Lange Jahre war das Loslassen höchstens mit einem Joint möglich. Mit zunehmendem Alter denke ich immer häufiger: Die Welt geht nicht unter!« (Journalist, 57 Jahre)
»In sich selbst zu ruhen und zu wissen, dass man ähnliche Situationen in der Vergangenheit schon gemeistert hat, hilft mir loszulassen und auch unter Anspannung die Balance zu halten.« (Leiter eines Hilfswerks, 52 Jahre)
Beruf und Privatleben trennen
»Ich lasse los, indem ich Beruf und Privatleben klar trenne und daheim konsequent nie arbeite.« (Mann, 43 Jahre)
Manchmal fällt es mir nach einem intensiven Seminar oder einer aufwühlenden Sitzung oder Beratung schwer, am Abend daheim innerlich voll anzukommen. Sehr wohltuend und hilfreich empfinde ich darum den Spaziergang vom Büro oder vom Bahnhof nach Hause.
Gebet und Gottvertrauen
»Ich kann leichter loslassen, wenn ich mir bewusst mache, dass ich von Gott gehalten und geführt werde in allen Situationen.« (Care-Team-Leiter, 48 Jahre)
»Der Glaube an einen Sinn hinter allem hilft mir loszulassen und Ruhe zu finden, auch wenn sich dieser Sinn mir im Moment nicht unbedingt erschließt. Ich spüre ein Urvertrauen in etwas, das größer ist als alles.« (Redakteurin, 49 Jahre)
Der Bezug zu einer transzendenten Kraft, die die meisten Gott nennen, hilft vielen zu relativieren und loszulassen. Eine Bekannte wirkte in den 80-er und 90-er Jahren am UNO-Hauptsitz von New York. Die fromme Frau lockte oft hohe Politiker und Diplomaten vor schwierigen Gesprächen in den Stilleraum, den der ehemalige Generalsekretär und Mystiker Dag Hammarskjöld im Eingangsbereich bauen ließ. Und war überzeugt, dass mache eskalierten Situationen zwischen Kriegsparteien dadurch positiv beeinflusst wurden.
Reflexion und Planung
»Loslassen und Abstand gewinnen kann ich durch regelmäßige Reflexion. Ich versuche zu differenzieren, wofür ich wirklich verantwortlich bin und wofür nicht. Und versuche Dinge zu priorisieren nach Wichtigkeit und Dringlichkeit.« (Hotelière, 38 Jahre)
»Ich versuche durch langfristiges Planen loszulassen und Stresssituationen vorzubeugen.« (Redakteur, 55 Jahre)
Der abendliche Tagesrückblick schließt nicht aus, dass wir auch in größeren Abständen eine gründliche Standortbestimmung vornehmen. Zu Beginn des Kalenderjahres und zu Beginn der Sommerferien biete ich jeweils Kurse im Bereich Standortbestimmung an. Auf diese Weise kann ich mich auch im eigenen persönlichen Bereich mit Dingen konfrontieren, die ich nicht oder nur mühsam loslassen kann und die mich daran hindern, ganz im Hier und Jetzt zu leben und mich zu öffnen für Neues.
Tiere
»Mein Hund hilft mir loszulassen und ist für mich ein wichtiger Kraftspender: Das Tier ist in seinen Gefühlen unverfälscht, spürt viel und zeigt die für die Situation angemessene Reaktion, ohne Worte.«
(Politikerin und Hilfswerkleiterin, 57 Jahre)
Persönlich habe ich kein intensives Verhältnis zu einem Tier und es wäre eine Quälerei, wenn ich in der kleinen Wohnung und bei den vielen Abwesenheiten eines halten würde. Ich weiß aber von vielen Bekannten, dass Tiere gerade in Krisenzeiten treuer,
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