Die Kunst engagierter Gelassenheit
überreden wollen.« (Mann, 62 Jahre)
»Die Grenze zur Aktion liegt bei mir da, wo ich tatsächlich etwas verändern kann.« (Frau, 40 Jahre)
»Der Punkt ist abhängig vom persönlichen Leidensdruck.« (Frau, 46 Jahre)
»Ich kann eher versuchen zu beschreiben, wie ich diese Grenze finde, nämlich durch eine ehrliche Antwort auf die Frage: Warum tue ich jetzt nichts? Was gewinne ich dadurch, dass ich etwas unterlasse?« (Frau, 49 Jahre)
»Ich beginne zu agieren, wenn gewisse Grenzen – vor allem politischer Art – überschritten werden.« (Mann, 38 Jahre)
»Die Grenze liegt bei mir dort, wo ich mich verleugnen müsste.« (Frau, 54 Jahre)
»Meine spirituelle Praxis ist mein Einsatz für Veränderungen. Diese Praxis umfasst mein ganzes Leben: Wie kommuniziere ich, wie verdiene ich mein Geld und wie gebe ich es aus, welche politischen Kräfte unterstütze ich, wie behandle ich andere Menschen und selbst
die Ameisen in der Küche, welche Geisteszustände nähre ich, welche versuche ich zu verringern?« (Frau, 41 Jahre)
»Schon mehrmals im Leben haben mich körperliche Symptome und Krankheiten dazu gezwungen, schon längst fällige oder nötige Veränderungen vorzunehmen. Mein Körper ist wie ein guter alter Freund, der spürt, dass ich nicht weitermachen kann wie bisher.« (Mann, 54 Jahre)
Änderung – um welchen Preis?
Die Grenze zwischen der akzeptierten Kooperation mit dem Unvermeidlichen und der Entscheidung zur konkreten Veränderung hängt stark von der Frage ab, welchen Preis wir zu zahlen bereit sind für mögliche negative Konsequenzen unseres Wirkens. Handelt es sich bei den notwendigen Veränderungen um Institutionen, Gemeinschaften und Gruppen, Nationen oder Religionen, braucht es nicht nur klare Visionen und starke Netzwerke, um etwas bewirken zu können, sondern oft auch die Bereitschaft, als unbequemer Nestbeschmutzer, elender Störenfried oder gar als böser Feind betrachtet und behandelt zu werden. Wer sich einsetzt, setzt sich aus und lebt mit dem Risiko, dass er und sein Umfeld durch ein bestimmtes Engagement diskriminiert, ausgeschlossen oder gar bedroht und verfolgt werden. Das erleben Menschen nicht nur in Gewaltregimen, sondern auch in unseren hochzivilisierten Breitengraden, sobald sie sich für Flüchtlinge und ein humanitäres Asylgesetz, für Muslime und Minarettbauten oder gegen Atomkraftwerke engagieren.
Oft ist uns nicht bewusst, wie hoch der Preis für Menschen ist, die sich in einem fremden politischen und sozialen Kontext
für Veränderungen engagieren. Zwar bewundern wir die Märtyrer des 20. Jahrhunderts wie Sophie und Hans Scholl, Mahatma Gandhi und Martin Luther King, Alfred Delp und Dietrich Bonhoeffer, Maximilian Kolbe und Überlebende wie Nelson Mandela in Südafrika und Aung San Suu Kyi in Myanmar (Burma).
Oft blenden wir aus, dass es in anderen Ländern lebensgefährlich sein kann, in einem Leserbrief oder bei einer Straßendemonstration Veränderungen zu fordern. In diesem Punkt darf ich viel lernen von meinem iranischen Freund Farsin, meinem »älteren Bruder«. Oft regte ich mich in den letzten Jahren über ihn auf, weil er leidvolle Situationen in meinen Augen allzu leicht als unvermeidbares Schicksal akzeptierte und als muslimischer Mystiker schnell mal »in scha’ Allah« (so Gott will) sagte, statt sich gegen die Ungerechtigkeiten zu erheben. Bis ich irgendwann kapierte, dass die als Fatalismus scheinende Gelassenheit und das vermeintliche Hinnehmen von Gewalt und Ungerechtigkeit eine – zumindest befristete – Überlebensstrategie einzelner Menschen und ganzer Völker darstellen kann.
Grenzen von Anpassung und Systemveränderung
Manchmal gelangen wir im Leben an Punkte, wo wir innerhalb eines Systems, einer Gruppe oder Gemeinschaft alle Formen der Anpassung und positiven Einstellung sowie unzählige Änderungsversuche unternommen haben und einsehen müssen, dass wir nichts oder nur noch Negatives und Destruktives bewirken können und darum das System verlassen müssen. Dies kann bedeuten, dass wir eine Partnerschaft nach
mehreren Rettungsversuchen und Therapien beenden, eine Arbeitsstelle nach zahllosen Konflikten und Mediationen kündigen, aus der Kirche nach einer Reihe von Enttäuschungen austreten, den Wohnort wegen zementierter politischer Verhältnisse verlassen oder infolge jahrelanger Schmerzen im Extremfall durch aktive Sterbehilfe aus dem Leben scheiden. Wichtig bei dieser Option ist, dass wir innerlich frei, selbstverantwortlich und
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