Die Kunst engagierter Gelassenheit
kreative und konstruktive Warten als Haltung des engagierten Geschehen-Lassens will gelernt sein. Bereits das Baby muss es mühsam lernen, indem die Mutter ihm bewusst nicht bei jedem Schrei augenblicklich die Brust gibt.
In meinem Alltag erlebe ich oft Wartezeiten. Gerade wenn ich diese Zeiten als leer empfinde, konzentriere ich mich auf meinen Atem oder formuliere kurze Stoßgebete. So wird das passive Aushalten und »Totschlagen« einer »verlorenen« Zeit zu einer aktiven Regeneration und gewonnenen Zentrierung – eine kleine Oase der Stille inmitten eines oft hektischen Tages.
Wer Geduld hat, hat sich selbst, ist bei sich, geerdet, zentriert, im ruhenden Pol des Hamsterrades. Geduld können wir neben der Natur auch durch Meditation oder Atemübungen lernen. Dazu weitere Tipps, Wege und Methoden aus meinem Bekanntenkreis:
»Wenn ich Ungeduld verspüre, gehe ich auf dem Balkon genüsslich eine Zigarette rauchen.« (Frau, 36 Jahre)
»Wenn ich Ungeduld verspüre, versuche ich deren Wurzel zu entdecken. Und dann gebe ich eine gute Prise Humor dazu und lache über mich selbst – für mich das effektivste Rezept.« (Frau, 51 Jahre)
»Ich greife zu Bachblüten.« (Frau, 39 Jahre)
»Ich fand einmal eine Karte, auf welcher stand: ›Lieber Gott, gib mir Geduld, aber bitte plötzlich.‹ Ich weiß inzwischen, dass Geduld haben ein Geschenk ist.« (Frau, 40 Jahre)
Einen sehr schönen Gedanken im Umgang mit Ungeduld, Geschehen-Lassen und Warten-Können entdeckte ich in einem Brief, den Rainer Maria Rilke an Franz Xaver Kappus schrieb:
»Ich möchte Sie bitten, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben, wie
verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, wie Sie sie nicht leben können. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.«
■ Eine Übung: Wenn ich vor der Waschmaschine stehe, die noch zwei oder fünf Minuten dauert, wenn ich auf den Bus warten muss, wenn der PC langsam startet, wenn ich in der Schlange stehe vor dem Bahnhof- oder Checkin-Schalter oder wenn ich mit dem Auto im Stau stehe, versuche ich bewusst zu atmen und den Atemzügen zehn Mal zu folgen, indem ich sie zähle.
■ Wann erlebe ich mich besonders ungeduldig?
■ Welche Situationen strapazieren meine Geduld?
■ Wie, mit welchen Mitteln und Wegen gelange ich zu mehr Geduld?
»Worst case « und Bruder Tod
Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte,
so würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen und
würde mich mehr entspannen.
Ich wäre ein bisschen verrückter als ich gewesen bin
und würde viel weniger Dinge so ernst nehmen.
Ich würde nicht so gesund leben.
Ich würde mehr riskieren, mehr reisen
und Sonnenuntergänge betrachten,
mehr bergsteigen, mehr in Flüssen schwimmen.
Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten.
Wenn ich noch einmal anfangen könnte,
würde ich versuchen, die Augenblicke zu leben.
Denn aus diesen besteht das Leben;
nur aus Augenblicken, vergiss nicht den jetzigen!
Wenn ich noch einmal leben könnte,
würde ich von Frühlingsbeginn an bis in den Spätherbst
hinein barfuß gehen.
Und ich würde mehr mit Kindern spielen,
wenn ich das Leben noch vor mir hätte.
Aber ich bin 85 Jahre alt und weiß,
dass ich bald sterben werde.
Autor unbekannt
Bereits im ersten Kapitel haben wir Gründe und Situationen reflektiert, die unsere Gelassenheit behindern, sowie Hilfen, Methoden und Wege kennen gelernt, die zu mehr Gelassenheit führen können. An den Beginn dieses Kapitels stelle ich die radikale Behauptung: Gelassen können wir letztlich nur sein, wenn wir den Mut haben, uns mit Worst-case-Szenarien zu
konfrontieren und wenn wir uns Bruder Tod zum Freund machen. Solange uns dies nicht gelingt, sind wir der rastlosen Jagd unterworfen nach immer noch mehr Glück und Zufriedenheit.
Aufs Schlimmste gefasst
Man muss kein Kultur-Pessimist und keine Trübsalbläserin, kein Problemverliebter und keine Untergangs-Stimmungskanone sein, wenn man sich mitten in einer gesundheitlichen oder partnerschaftlichen Krise, in einer schwierigen Entscheidungssituation oder bei einer Kündigung der Arbeit oder Wohnung einmal ganz ernsthaft
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