Die Kunst engagierter Gelassenheit
und konkret das Worst-case-Szenario vorstellt und alle möglichen Fragen, Sorgen, Ängste, Zweifel und Gefahren plastisch vorstellt und notiert. Solange wir uns diffus vor der Zukunft fürchten und uns als Opfer des Systems sehen, finden wir keine Gelassenheit. Wenn wir uns aber konkret vorstellen, was uns im schlimmsten Fall ganz genau geschehen könnte und erwarten würde, erkennen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass auch im »Worst-case-Szenario« ein sinnvolles Leben möglich wäre. Diese Erfahrung kann uns eine überraschende Ruhe schenken und eine unerschütterliche Gelassenheit, die nichts mit Wegschauen, Verdrängen, Gleichgültigkeit oder pseudospirituellem Drüberstehen zu tun hat, sondern geläutert ist durch die Konfrontation mit den schlimmsten Befürchtungen.
Ehe ich vor vier Jahren die Entscheidung fällte, aus dem Jesuitenorden auszutreten, habe ich mich bewusst mit dem Worst-case-Szenario konfrontiert. Ich wusste, dass ich am Tag des Austritts ohne einen Cent und ohne materielle Absicherung im Alter in der Welt stehen würde. Tagelang setzte ich mich mit
diesem Gedanken auseinander und hatte schlaflose Nächte deswegen. Ich sah vor dem inneren Auge, wie ich am 65. Geburtstag in ein Armenhaus für Männer ziehen würde und stellte mir vor, wie ich dort den Tag konkret verbringen würde. Neben den vielen Ängsten um mein Ego und mein Image tauchten bald Gedanken auf wie: »Ich kann dann immer noch lesen und schreiben so oft ich will, ich kann wandern gehen und in der Schweiz ist in den letzten hundert Jahren niemand verhungert. « Die diffusen Existenzängste begannen sich zu lichten. Als ich meinen Plan des Ordensaustritts in den folgenden Tagen einigen Vertrauten mitteilte, reagierten diese teilweise sehr ängstlich und stellten Fragen wie: »Wovon willst du denn nun leben? Wo und was wirst du arbeiten können? Wo kannst du wohnen? Was denken und sagen die Mitbrüder und andere Leute, wenn du zu deiner Beziehung stehst und austrittst? «Trotz oder gerade wegen dieser angstgesteuerten Fragen im näheren Umfeld spürte ich noch deutlicher, dass es mir gar nicht nur um den Ordensaustritt ging, sondern darum, ein Mensch zu sein, der möglichst frei, authentisch und selbstbestimmt lebt und nicht Dinge sagt und tut, verschweigt und lässt, weil die anderen dieses oder jenes denken könnten. [Ref 5]
So sicher wie der Tod
»Wird’s besser? Wird’s schlimmer?«
fragt man alljährlich.
Seien wir ehrlich:
Leben ist immer
lebensgefährlich.
Erich Kästner (Schriftsteller, 1899 – 1974)
Meine Gedanken machten vor vier Jahren bei der Vorstellung von Worst-case-Szenarien nicht Halt. Irgendwann stellte ich mir auch das Bild vor, wo ich im Sarg lag und der Deckel über mir zugeschraubt wurde. Mir kamen die letzten Tage mit meinem verstorbenen Vater in den Sinn und wie er mir in der letzten Nacht sagte: »Man muss im Leben alles versuchen.« Mit dem Bild des eigenen Todes vor Augen, stellte ich mir die Frage: Was ist wirklich wichtig und wesentlich im Leben? Worauf kommt es letztlich an? In diesem Moment ergriff mich inmitten der Fragen und Unsicherheiten eine große innere Ruhe und Freiheit, Leichtigkeit und Lebendigkeit, Zufriedenheit und Dankbarkeit. Die Entscheidung war reif und ich konnte gelassen auf die Worte von Hilde Domin vertrauen: »Ich setzte den Fuß in die Luft, und sie trug.«
Durch die Konfrontation mit dem eigenen Sterben entdecken wir den Wert und die Schönheit des Lebens und erhalten die Freiheit, Kraft und Klarheit, um unsere verbleibende Zeit möglichst bewusst, achtsam, sinnvoll und frei zu gestalten. Diese Übung ist unabhängig von unserem Lebensalter. Wolfgang Amadeus Mozart schrieb bereits mit 31 Jahren an seinen Vater:
»Ich lege mich nie zu Bett, ohne zu bedenken, dass ich vielleicht – so jung als ich bin – den andern Tag nicht mehr sein werde. Und es wird doch kein Mensch von allen, die mich kennen, sagen können, dass ich im Umgang mürrisch oder traurig wäre. Für diese Glückseligkeit danke ich alle Tage meinem Schöpfer und wünsche sie von Herzen jedem Mitmenschen.«
Viele Menschen konnten mir diese positive Erfahrung einer Konfrontation mit dem eigenen Sterben bestätigen:
»Bücher und Zeugnisse über Nahtoderlebnisse schenken mir Hoffnung, wandeln meine Ängstlichkeit und lassen mich gelassener in die Zukunft blicken.« (Frau, 46 Jahre)
»Die Auseinandersetzung mit dem Sterben und das bewusste Akzeptieren unserer Endlichkeit fördert meine Gelassenheit
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