Die Kunst, frei zu sein
Gaunereien, Sabotage und dem völligen Verlust der Freude an der Arbeit. Der Zweck heiligt die Mittel. Wir wissen, dass diese knauserige Einstellung im protestantischen Zeitalter durch die Puritaner, durch Benjamin Franklin, Wesley und die übrigen grauen Republikaner und Förderer der Langeweile entstand. Aber was ist die Alternative?
Wenn ich dieses Thema im Pub anschneide, höre ich, es gebe keinen anderen Weg. Ständiger Kampf sei das einzige Prinzip, nach dem Leben und Arbeit funktionieren könnten. Andere Systeme, zum Beispiel der Kommunismus, seien gescheitert, und deshalb müssten wir uns mit den Kämpfen und der Grausamkeit des Kapitalismus abfinden. Man müsse zäh sein, um in der heutigen Welt zu überleben. Dieses Wort »überleben« finde ich besonders deprimierend. Habt ihr all die grässlichen Ratgeber mit dem Wort »überleben« im Titel gesehen? Familien und wie man sie überlebt und dergleichen. Ist das Dasein auf eine bloße Überlebensfrage reduziert worden? Ich halte dies für kein sonderlich lohnendes Bestreben. Zu lieben, freudig zu leben, das Leben zu genießen – das sollten unsere Ziele sein.
Ohnehin stimmt es einfach nicht, dass der Kapitalismus das einzige funktionierende Betriebssystem ist. In Gegenseitige Hilfe führt Kropotkin anhand von Beispielen aus der Natur und aus dem menschlichen Leben, in denen das Prinzip der gegenseitigen Hilfe der dominierende Faktor ist, eine methodische Untersuchung durch. Nachdem er entsprechende Fälle bei den Tieren analysiert hat, legt er dar, dass primitive Gesellschaften und sogar die herrlichen Barbaren soziale Verhaltensmuster hatten, die sich stark von unserem Egoismus unterschieden. In bestimmten primitiven Gesellschaften ist die Gastfreundschaft so wichtig, dass ein Mann, der allein durch den Wald spaziert und sich hinsetzt, um Mittag zu essen, vorher dreimal laut anbieten muss, seine Mahlzeit mit jedwedem vorübergehenden Fremden zu teilen.
Das mittelalterliche England – »Merry Old England« – war ebenfalls von diesem Geist der Gastfreundschaft durchdrungen. Die Haltung ging von Mönchen und Nonnen aus, die ihre Türen permanent offen hielten und sich um wandernde Bettler oder in Not geratene Bürger kümmerten, indem sie ihnen Bier, Brot und Schinken gaben. Inspiriert durch die Bergpredigt, nahmen sie das Prinzip der Nächstenliebe, der caritas, sehr ernst. In jenen Tagen wäre es einem Pfarrer aus moralischen Gründen unmöglich gewesen, über einen Obdachlosen hinwegzusteigen. Die Bauern und Handwerker gaben zehn Prozent ihrer Erträge oder ihres Lohnes an das Ortskloster ab, das in vielen Fällen auch ihr Landesherr war. Dieser Zehnte diente vor allem der lokalen Armenfürsorge. Damals versorgten wir unsere Armen selbst und übertrugen diese Aufgabe nicht einer fernen Clique von Bürokraten.
Mönche und Priester ermahnten das Volk ständig, dass jegliches Emporstreben eitel sei und dass man seinen Nächsten nicht übervorteilen dürfe. Der Gedanke der »menschlichen Bruderschaft« wurde intensiv gefördert. Auffällig ist zum Beispiel, dass der heilige Thomas von Aquin seine Leser immer wieder auffordert, »Gott und deinen Nächsten zu lieben«. Gott und der Nächste sind im großenWeltentwurf so gut wie gleichwertig.Wir kümmern uns umeinander. Das ist das Prinzip der Wohltätigkeit, wie es im Mittelalter ersonnen wurde.
Im vierzehnten Jahrhundert war die protestantische Ethik, die Europa und Amerika später so gründlich und katastrophal infizieren sollte, natürlich noch nicht erfunden worden. Das Hauptanliegen aller Menschen bestand nicht darin, viel Geld zu verdienen, sondern darin, ihre Seelen zu retten. Im Gegenteil, wer viel Geld verdiente, würde fast mit Sicherheit in der Hölle enden: Eher gehe ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme. Jesus und die Apostel lebten in
Armut, und der Lieblingsphilosoph des Mittelalters, Aristoteles, pries die vita contemplativa. Deshalb war man im Mittelalter, obwohl es sich unleugbar um eine merkantile Epoche handelte, zutiefst gespalten, was das Geldverdienen betraf, und diskutierte unablässig über das Thema.
Die neuen Handelsgilden, die seit dem zwölften Jahrhundert entstanden, beruhten auf der Vorstellung eines »gerechten und festen Preises« sowie auf dem Gemeinwohl. Die Gilden mussten eine Wirtschaftsform schaffen, die der mittelalterlichen Ethik – und damit dem Misstrauen gegenüber harter Arbeit, Handel und Wettbewerb – entsprach. Das
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