Die Kunst, frei zu sein
in der Mayakultur in Mexiko geschah. Laut dem Archäologen J. Eric S.Thompson glaubten die Mayas, genau wie die Menschen des europäischen Mittelalters, dass niemand »nach mehr als seinem gerechten Anteil streben sollte, denn das kann nur auf Kosten des Nächsten bewirkt werden; Rücksicht auf andere ist überaus wichtig«. Diese Gesellschaft wurde, wie wir wissen, von den Konquistadoren zerstört. Thompson zitiert die Chilam-Balam-Bücher der Mayas: »Vor der Ankunft der mächtigen Männer und Spanier gab es keinen gewaltsamen Raub, es gab keine Gier, und kein Mitmensch wurde blutig niedergeschlagen; nichts ging auf Kosten der Armen, zulasten der Speisen für alle und jeden.« Die Ankunft der Spanier, so Thompson, sei der Beginn des individuellen Unfriedens gewesen.
Eine der ersten ernsthaften Bewegungen, die gegen die aufkommende Neuordnung in Europa protestierten, war jene der Digger von 1649, die das Gemeindeland umgruben. Ihr Anführer John Winstanley, ein gescheiterter Getreidehändler, war der Meinung, dass die Menschen »gemeinsam arbeiten und gemeinsam ihr Brot essen« sollten. Sie rebellierten gegen die Bodenprivatisierungspolitik der Tudor-Regierung, die dörfliches Gemeindeland hatte beschlagnahmen und einzäunen lassen, wonach Schafe auf die Felder getrieben worden waren. Die Digger planten laut einer Gerichtsmitteilung:
sich zu erheben und die Erde umzugraben und zu pflügen und deren Früchte zu ernten … Ihre Absicht ist es, die Schöpfung wieder in ihren früheren Zustand zu überführen. Da Gott versprochen habe, den unfruchtbaren Boden fruchtbar zu machen, stellten sie die alte Gemeinschaft des Genusses der Früchte der Erde wieder her und verteilten die Erträge an die Armen und Bedürftigen und speisten die Hungrigen und bekleideten die Nackten.
Winstanleys Stellvertreter John Everard erklärte, die Zeit der Erlösung stehe bevor und Gott werde sein Volk aus der Sklaverei holen und ihm die Freiheit zurückgeben, an den Früchten und Erträgen der Erde teilzuhaben. Die Digger standen hinter einer der ersten Revolten gegen die neue protestantische Ordnung, die allmählich das alte England infizierte. Die Situation verschlimmerte sich ab 1760 durch die Flurbereinigungsgesetze, welche die Menschen zwingen sollten, aus den Landgebieten in die Städte überzusiedeln, wo sie als billige Arbeitskräfte in den neuen Fabriken benötigt wurden. Eine Landbevölkerung von großer Vielfalt und mit ausgedehntem Gemeindeland zum Weiden ihres Viehs und zum Sammeln von Feuerholz wurde durch riesige Schafherden auf trockenen Feldern verdrängt. Schafe ersetzten Menschen, da sie rentabler waren, und nirgends wurde der Prozess brutaler durchgeführt als in den schottischen Highlands, wo gesellschaftlich aufstrebende Gutsherren die Menschen von ihren kleinen Bauernhöfen vertrieben, so dass sie entweder verhungerten oder ihr Glück auf den nach Amerika segelnden Schiffen versuchen mussten.
Das siebzehnte Jahrhundert erlebte auch die Entstehung der anarchischen Ranter-Bewegung. In Die Sehnsucht nach dem Millennium zeigt Norman Cohn, dass die Ranter die Nachfahren der Freigeistersekten waren, die überall in Europa im elften, zwölften und dreizehnten Jahrhundert florierten. Wie die Angehörigen jener Sekten vertraten sie den Standpunkt, dass jemand, dessen Seele rein sei, keine Sünde begehen könne, selbst wenn er mit seiner eigenen Schwester auf dem Kirchenaltar schliefe. Die Ranter waren gegen die Arbeit. Sie meinten, alle Dinge sollten Gemeinbesitz sein, und der Begriff der Sünde sei nicht absolut, sondern ein von Menschen geschaffener Mythos, der den Zweck habe, andere zu unterwerfen. Sie waren die Existenzialisten ihrer Zeit, denn sie behaupteten, dass nichts einen immanenten Sinn habe, sondern dass jeder Sinn vom Menschen geschaffen worden sei. Der Wanderprediger Laurence Clarkson (1615–1667) beschrieb den Ranterismus in seiner Biografie (1650). Es handelt sich um eine äußerst relativistische Philosophie, und man hat den Eindruck, Nietzsche zu lesen:
Gott hat alle Dinge gut gemacht, und so gibt es nichts Böses außer dem, was der Mensch als solches beurteilt. Denn ich begriff, dass es solche Dinge wie Diebstahl, Betrug oder Lügen nur deshalb gibt, weil der Mensch sie so gemacht hat. Denn wenn das Geschöpf seine Welt [nicht] durch »Mein« und »Dein« schicklich gemacht hätte, würden Bezeichnungen wie Diebstahl, Betrug oder Lüge nicht existieren.
Sünde existiere nur in der Fantasie, alles sei
Weitere Kostenlose Bücher