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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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sondern unsere Reflexion. Mehrere
Moralpsychologen der Gegenwart dagegen setzen viel stärker auf unsere sozialen Instinkte. Geht es nach ihnen, so wissen wir im Regelfall intuitiv am besten, was moralisch zu tun ist.
    Was also ist richtig? Müssen wir unserer Gefühle Herr werden und sie analytisch zähmen? Oder müssen wir wieder lernen, ihnen besser zu gehorchen? Mit einem Wort: Müssen wir stärker auf das hören, was andere sagen? Oder genügt es, in uns selbst hineinzuhorchen? Finden wir die richtige Entscheidung beim Blick in den Spiegel? Oder in der Meditation?
    Psychologen unterscheiden in diesem Zusammenhang zwei verschiedene Typen der Motivation. Manchmal kommt der Ansporn, etwas zu tun, aus uns selbst. Das Kind, das mit heißen Wangen in sein Buch vertieft ist, tut dies aus eigenem Antrieb heraus. Seine Motivation ist intrinsisch, das heißt: von innen. Ein Kind, das in der Schule genötigt wird, seine Hausaufgaben zu machen, tut dies durch ein Motiv von außen, das heißt extrinsisch. Das beste Beispiel, um den Unterschied zu verstehen, stammt von Mark Twain: »In England gibt es reiche Gentlemen, die im Sommer tagtäglich zwanzig oder dreißig Meilen mit einem Vierspänner herumkutschieren, weil dieses Privileg sie eine beträchtliche Summe Geld kostet; würde man sie für diese Dienstleistung aber entlohnen wollen, würde Arbeit daraus, und sie würden darauf verzichten.«
    Nicht anders ist es in der Moral. Dass wir unsere Arbeitskollegen nicht umbringen, liegt nicht an der Angst vor Strafen, sondern daran, dass ein normaler Mensch das auch gar nicht will (selbst wenn er es sich in Gedanken manchmal vorstellen mag). Die Motivation ist viel stärker intrinsisch als extrinsisch. Dagegen fehlt für das Zahlen von Steuern gemeinhin jedes intrinsische Motiv. Steuern zu zahlen ist kein arttypisches Verhalten des Menschen aus grauer Vorzeit. Von einem sozialen Instinkt kann deshalb nicht die Rede sein. Die Motivation ist extrinsisch. Wenn wir keine Steuern zahlen, haben wir Strafen zu fürchten.
    Schon Aristoteles kannte diesen Unterschied zwischen intrinsischer
und extrinsischer Motivation. Der besondere Clou seiner Ethik war eine raffinierte Versöhnung. Tugendhaft zu leben bedeute, die äußeren Motivationen so lange einzuüben, bis man sie in innere Motivationen überführt hat. Praktisch gesprochen meint dies: entweder viel Drill oder viel Selbstaufmerksamkeit, oder am besten beides.
    Nicht ganz anders sah das auch Immanuel Kant und die von ihm inspirierten Psychologen und Pädagogen wie Piaget oder Kohlberg. Die höchste Stufe der Moral ist in dem Moment erreicht, wo wir uns selbst in unserem Handeln beobachten und unser Tun mit dem abstimmen, was wir grundsätzlich und allgemein für gut und richtig halten. Und je stärker die intrinsische und die extrinsische Motivation zusammenfließen, umso moralisch reifer sind wir. Zu Deutsch: Gute Menschen sind wir dann, wenn wir unsere moralischen Pflichten gerne erfüllen. Wenn wir das, was wir sollen, auch wollen.
    So weit die schöne Idee. Vermutlich gibt es im wirklichen Leben jedoch nur sehr wenige Menschen, die so leben. In der Realität nämlich liegt die Taschenlampe der Selbstaufmerksamkeit äußerst unruhig in unserer Hand. Der US-amerikanische Soziologe Erving Goffman (1922-1982), Professor an der University of California in Berkeley und später an der University of Pennsylvania in Philadelphia, legte hier den Finger in die Wunde. Um unser Selbst mit durchgängiger Aufmerksamkeit zu beleuchten, müsste es ein solches Selbst überhaupt erst einmal geben. Doch das, was wir Identität nennen, zerfällt in Wahrheit in lauter verschiedene Rollen. Der Grund dafür ist ziemlich einfach: Als Lebewesen, die Absichten haben und Absichten bei anderen erkennen können, fühlen wir uns immer beobachtet. Oder mit Goffman gesagt: Wir sind nie völlig authentisch. Ob in der Gegenwart anderer oder auch allein, stets spielen wir uns etwas vor. Wir reden uns etwas ein, stellen uns als etwas dar und geben vor, etwas zu sein.
    Tun und Sein, so Goffmann, sind in der Natur des Menschen
niemals das Gleiche. Für unsere Selbstaufmerksamkeit bedeutet dies, dass wir uns selbst immer aus der Perspektive einer Rolle beleuchten, die wir gerade spielen. Und die Pointe daran ist, dass wir uns dabei mehr mit der Rolle identifizieren als mit unserem Selbst. Anders ausgedrückt: Wenn wir uns selbst mit der Taschenlampe beleuchten, so identifizieren wir uns nicht so sehr mit dem, auf

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