Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
den das Licht fällt. Sondern wir identifizieren uns mit dem, der die Lampe hält!
Man kann sich dies an einem fürchterlichen Beispiel klarmachen. Im Prozess über das Polizeibataillon 101 gab einer der angeklagten Polizisten zu Protokoll: »Ich habe mich, und das war mir möglich, bemüht, nur Kinder zu erschießen. Es ging so vor sich, dass die Mütter die Kinder bei sich an der Hand führten. Mein Nachbar erschoss dann die Mutter und ich das dazugehörige Kind, weil ich mir aus bestimmten Gründen sagte, dass das Kind ohne seine Mutter doch nicht mehr leben konnte. Es sollte gewissermaßen eine Gewissensberuhigung für mich selbst sein, die ohne ihre Mutter nicht mehr lebensfähigen Kinder zu erlösen.« 7
Ausschlaggebend für das Handeln des Polizisten war seine Rolle, die er als Angehöriger des Bataillons zu spielen hatte: Er sollte oder musste Menschen aufstöbern und erschießen. Da diese Rolle aber ganz offensichtlich nicht im Einklang mit jenen Werten stand, die er als Mensch für sich in Anspruch nahm, musste er eine Selbstausrede erfinden, die ihm sein Handeln leichter machte. Statt seine Rolle zu verlassen, veränderte er den Strahl der Taschenlampe, der ihm sein Selbstbild erträglicher machte. Und er brachte es auf diese Weise fertig, sich vor sich selbst und im Vergleich mit anderen noch einigermaßen »gut« zu fühlen.
Für Harald Welzer ist dies der Beweis dafür, dass die Mörder der Shoa sich mehrheitlich nicht völlig aus dem Korsett ihrer Erziehung und Moral gelöst hatten. Stattdessen waren sie darauf bedacht, sich mithilfe der Rollendistanz zu schützen, um ihr Selbstbild als »gute Menschen« nicht zu gefährden. »Es zeigt,
dass es die Selbstvergewisserung über ihr trotz allem noch intaktes moralisches Vermögen war, die es ihnen erst ermöglichte, Morde zu begehen und sich dabei nicht als Mörder zu fühlen. Sie mordeten gewissermaßen nicht als Person, sondern als Träger einer historischen Aufgabe, hinter der ihre persönlichen Bedürfnisse, Gefühle, Widerstände notwendig zurückstehen mussten.« 8
Dass wir unser Selbstbild immer aus einer bestimmten oder unbestimmten Rollendistanz wahrnehmen, macht die Sache der Moral ziemlich kompliziert. Denn die Rolle entscheidet sehr stark mit darüber, wie wir uns in einer Situation verhalten. So gibt es im Fall des Polizeibataillons 101 eine ganze Reihe von Rollennormen, die das Morden erleichterten. Bereits die Uniform eines Polizisten oder Soldaten kann dazu beitragen, unsere sozialen Instinkte außer Kraft zu setzen. Als Uniformträger sind wir auch in der Wahrnehmung anderer nur noch eingeschränkt Mensch. In erster Linie sind wir Träger einer Rolle oder Autorität. Aus Rüstungen wurden Uniformen nicht nur zur Unterscheidung von Heeren und Rangstufen, sondern auch dafür, Individualität zum Verschwinden zu bringen. Sie dienen der Anonymisierung des Gegners, aber eben auch zu einem bestimmten Teil der Selbstanonymisierung. Wenn wir uns als Träger einer Soldatenuniform in eine höhere Befehlsgewalt einreihen, betreiben wir eine Selbstcamouflage gegenüber unseren sozialen Instinkten. Und unter bestimmten Umständen macht der Abzug des Individuellen im Erscheinungsbild mich amoralischer - weil ich mich nicht mehr mit dem identifiziere, der ich ansonsten bin.
Nur selten finden wir uns im normalen Leben in Situationen wieder, in denen wir in dem Film, den wir von unserem Leben drehen, den Hauptdarsteller wechseln. Doch dass wir selbstbedrohende Informationen oder Ereignisse so uminterpretieren, dass sie uns weniger ausmachen, gehört zu nahezu jedem Leben dazu. Statt weiter nachzudenken, handeln wir lieber, wie im Fall des Milgram-Experiments. Oder aber wir reden uns die Dinge weniger schlimm, wie im ganz extremen Fall der Polizist
des Bataillons, der davon sprach, die Kinder, die er ermordete, zu »erlösen«.
Menschen sind die vermutlich einzigen Tiere, die sich selbst aufmerksam beobachten können. Doch unsere Selbstaufmerksamkeit ist eine begrenzte Ressource, die wir nur begrenzt in Gebrauch nehmen. Darüber hinaus ist sie unserem Glück oft nicht zuträglich. In moralischer Hinsicht kennen wir viele Tricks, wie wir unsere Selbstaufmerksamkeit so an- und ausknipsen, dass es uns oft gelingt, vor uns selbst gut dazustehen.
Dass all dies ohne Spuren für unser Selbstbild bleibt, wird kaum jemand hoffen dürfen. Sich dauerhaft selbst etwas vorzumachen ist schwierig und hat Folgen. Selbst wenn wir uns noch so sehr belügen,
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