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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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nicht mehr nach ihrer Bedeutung für uns zu, sondern vielmehr nach ihrem Preis. Es ist die gleiche Zeit, in der Oscar Wilde in Lady Windermeres Fächer schreibt: »Ein Zyniker ist ein Mensch, der von allem den Preis und von nichts den Wert kennt.« Nach Simmel ist unsere ganze Lebenswirklichkeit in diesem Sinne zynisch geworden.
    Wie eine Spinne webt das Geld das gesellschaftliche Netz. Und wo die klebrigen Fäden ausliegen, wird alles äußerlich und gleichgültig. Alles kann jetzt mit allem getauscht werden. Der Zweck des Geldes heiligt alle Mittel. Und was früher nach seiner Qualität bemessen wurde, bemisst sich nun nach der Quantität des Geldes. »Was gegen Geld fortgegeben wird, gelangt an denjenigen, der das meiste dafür gibt, gleichgültig, was und wer er sonst sei; wo andere Äquivalente ins Spiel kommen, wo man um Ehre, um Dienstleistung, um Dankbarkeit sich eines Besitzes entäußert, sieht man sich die Beschaffenheit der Person an, der man gibt.« 7 Nur was einen Geldwert besitzt, ist auf dem Markt wertvoll. Auf diese Weise wird das Geld in der Moderne zu einer neuen Religion. Es stiftet Sicherheit, Gewissheit und verspricht günstigenfalls auch eine gute Zukunft. Und in all diesen Funktionen trägt es zum Lebenssinn bei.

    Statt einfach nur ein zweckdienliches Mittel zu sein - was es ohne Zweifel auch ist -, gewinnt das Geld eine seltsame Macht über uns. Indem wir nach dem Geld streben wie nach kaum etwas anderem, verlieren wir den Sinn für die feinen sozialen Unterschiede, die individuellen Qualitäten, für das Seltene und Flüchtige, für den Moment, für die Nähe und so weiter. Alles klingt farblos und indifferent, wo das Geld den Taktstock schwingt. Das Leben erscheint völlig versachlicht - so sehr, dass alles außer dem Geld an Bedeutung verliert.
    Wer sich heute für zwanzig Euro einen Mozart auf CD ins Wohnzimmer kommen lassen kann, wo früher ein Hofstaat vonnöten war; wer in stiller Routine Lebensmittel aus aller Welt kaufen kann, die einstmals seltene Köstlichkeiten waren, und wer nicht mehr reisen muss, sondern nur ein Flugticket kaufen, um auf den Bahamas am Strand zu liegen - der erfüllt Phantasien, von denen noch vor hundert Jahren niemand zu träumen wagte. Nur dass sie nicht mehr entfernt die Bedeutung haben, die man damals in ihnen gesehen hätte.
    Die Kommerzialisierung von nahezu allem ist eine zweischneidige Sache. Auf der einen Seite der Werteverlust, »die eigentümliche Abflachung des Gefühlslebens« - auf der anderen Seite eine »Tendenz zur Versöhnlichkeit, aus der Gleichgültigkeit gegen die Grundfragen des Innenlebens quellend«. Wo das Geld die Unterschiede einebnet, werden alle Menschen Brüder im Kommerz. Sie werden sich ähnlicher und zueinander weniger misstrauisch und feindselig: »Alles dies entspringt als positive Folge jenem negativen Zuge der Charakterlosigkeit.« 8
    Je charakterloser die Gesellschaft durch das Geld wird, umso leichter kommen die Menschen darin miteinander klar - das ist die Pointe. Aber sie zahlen zugleich einen hohen sozialen Preis dafür. Die Bedeutung der Gefühle im öffentlichen Leben schwindet immer mehr. Was für mich persönlich zählt, ist fast nur noch, was in der Gesellschaft allgemein zählt - und das bemisst sich am Geldwert. Mein Leben ist umzingelt von Dingen, die mir eigentlich
fremd sind, die mir aber gleichwohl wichtig werden durch ihren Marktwert. Je mehr ich mit ihnen zu tun habe, umso mehr dringen sie dabei in mein Seelenleben ein.
    Die Psychen der modernen Menschen sind angefüllt mit symbolischen Werten. Während wir immer weniger Symbole haben, mit denen wir uns die Welt erklären - keine Götter, keine Allegorien, keine Gleichnisse und keinen Kult -, schaffen wir uns zuhauf materielle Symbole. Je fortgeschrittener die Geldwirtschaft, umso differenzierter wird das Netz aus neuen materiellen Symbolen, mit denen wir unser Innenleben anreichern. Symbole, die uns helfen, uns in der schönen neuen Warenwelt zu orientieren. 9 Acht Jahre nach der Gründung von Coca-Cola und achtzig Jahre vor den ersten Lacoste-Krokodilen auf Poloshirts war diese Erklärung der Status-, Kult- und Markengesellschaft unserer Zeit eine brillante Prophetie.
    Man kann sich vorstellen, was all dies für die Moral bedeutet. Durch das Geld halten wir heute eine Waffe in der Hand, die völlig charakterlos ist. Es ist die einzige Sache der Welt, deren Qualität sich allein nach der Quantität bemisst. Da wir inzwischen fast alles auf der Basis

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