Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
seine weltberühmten Experten? 1
Das Interesse der Queen an Derivaten, Zertifikaten, Leerverkäufen und internationalen Finanztransaktionen kam nicht von ungefähr. Etwa 100 Millionen Pfund des Königshauses waren in Wertpapieren angelegt. Die Londoner Börse aber hatte gerade einen Einbruch von 25 Prozent zu verzeichnen. Die Antwort, die Garicano ihr gab, glich einem Offenbarungseid: »Auf jeder Ebene hat jemand auf jemand anderen vertraut, und alle dachten, dass sie das Richtige tun.« Auch eine bald darauf einberufene Konferenz an der LSE kam zum gleichen Ergebnis. Die Krise war möglich, weil niemand das Ganze überschaute. Selbst die Tausenden von Managern, die mit nichts anderem betraut waren, als die Risiken einzuschätzen, sahen immer nur einen kleinen Teil. Sie blickten sich nur in ihren Abteilen um. Jeder schaute nicht weiter als bis zum nächsten Wagen. Und niemand merkte, dass der ganze Zug auf einen Abgrund zufuhr.
Der Mangel an Überblick und die fehlende Perspektive von außen sind weit mehr als die Antwort auf die königliche Frage nach der Finanzkrise. Sie sind ein Merkmal unseres gesamten Wirtschaftens. Millionen Menschen in der westlichen Welt sorgen dafür, dass der Zug fährt. Und Zehntausende von Experten - Ökonomen, Juristen und Politiker - inspizieren die Waggons. Aber wer bestimmt die Richtung?
Die Frage, so seltsam es klingt, wird kaum gestellt. Und die Antwort ist ebenso stereotyp wie leer: Hauptsache, es geht weiter vorwärts, die Wirtschaft wächst, und die Menschen haben Arbeit. Der Gleichschritt von Vorwärtsbewegung, Wachstum und Arbeit erscheint uns dabei so selbstverständlich, dass wir leicht geneigt sind, ihn für den eigentlichen Sinn des Wirtschaftens zu halten: Gute Ökonomie ist, wenn es immer so weitergeht.
Ist das überzeugend? Die großen Denker der Wirtschaft von Adam Smith über David Ricardo, John Stuart Mill und Karl Marx bis zu John Maynard Keynes gaben eine ganz andere Antwort. Wichtig an der Wirtschaft ist, dass die Richtung stimmt. Und die Richtung, auch darin waren sie sich alle einig, ist die gleiche Richtung wie jene der Ethik: ein möglichst gutes Leben für möglichst viele Menschen. Ökonomie ist die Umsetzung von Moralphilosophie mit praktischen und finanziellen Mitteln.
Was ist ein gutes Leben und ein gutes Zusammenleben? Und auf welche Weise wird es erreicht? Hinter jeder Wirtschaftstheorie stehen eine Weltanschauung, ein Menschenbild und ein gesellschaftliches Ideal. Wirtschaftswissenschaften sind keine wertfreie Disziplin, keine Mathematik des Geldes, der Arbeitskräfte und Güter, auch wenn sie sich selbst oft auf solche Weise selbst missverstehen.
Die wichtigste Frage der Ökonomie ist die, was mit ihren Mitteln erreicht werden soll. »Wenn man wissen will, worum sich eine Gesellschaft oder eine Ideologie wirklich dreht, sollte man der Spur des Geldes folgen«, schreibt der US-amerikanische Informatiker und Künstler Jaron Lanier (*1960). Wenn das Geld
zum Beispiel »in die Werbung fließt und nicht zu Musikern, Journalisten und Künstlern, dann befasst sich eine Gesellschaft mehr mit Manipulation als mit Wahrheit und Schönheit. Wenn die Inhalte wertlos sind, dann werden die Menschen irgendwann hohlköpfig und inhaltslos.« 2
Im Prinzip ist das in Deutschland auch nicht umstritten: Die Aufgabe des Staates ist nicht Wirtschaftswachstum um jeden Preis. Sie ist, einer größtmöglichen Zahl von Bürgern ein zufriedenes oder gar erfülltes Leben zu ermöglichen - was auch immer darunter verstanden wird. In jedem Fall ist es eine Mischung aus materiellem und immateriellem Wohlstand, aus Gütern und Kultur, Waren und Befindlichkeiten. Materieller Wohlstand ist kein Selbstzweck, sondern eine zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für das Wohlbefinden.
So weit die Welt des Prinzips. Doch wer in unserem Land wacht tatsächlich über die Richtung? Anders als im 18. Jahrhundert haben Philosophen heute keinen Einfluss mehr auf die Politik. An ihre Stelle sind die Ökonomen getreten, die großen Wirtschaftsführer und Lobbyisten, die Spin-Doctors, PR-Berater und Consultants. Ihr Thema freilich ist nicht die Zukunft: Es sind Markt-, Macht- und Karrierechancen. Und es ist der Erhalt des Status quo.
Die Richtung der Wirtschaft zu bestimmen bedeutet dabei nicht einfach, ihren Kreislauf in Gang zu halten. Es meint zugleich, Entscheidungen darüber zu treffen, womit man eine Gesellschaft befeuert. Welche Sinnbedürfnisse werden zuvorderst
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