Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
sich dort wiederfindet, der muss sich sagen: »Ich stehe zu Recht hier unten. Ich bin eine Pflaume. Ich habe nichts drauf und leiste zu wenig.« Kennen Sie irgendeinen Menschen, der so von sich denkt? Wohl kaum. Noch der unterprivilegierteste Hartz-IV-Empfänger wird sich so kaum sehen. Vielmehr wird er denken, dass die Gesellschaft nicht fair zu ihm war und ist. Oder dass er im Leben viel Pech hatte und so weiter. Wir alle färben unser Selbstbild eben gerne schön oder legen und lügen
uns etwas zurecht. Die nackte Wahrheit über sich will kaum jemand wissen. Doch die träte nun grell zutage und provozierte das Selbstwertgefühl von Millionen Menschen. Eine solche Menge ausfluchtsloser, zerknirschter Menschen kann unsere Gesellschaft nicht vertragen. Es gäbe Revolten und vielleicht einen Bürgerkrieg.
Unsere ethischen Grundsätze und Entscheidungen bewähren sich in einer weitgehend normierten Welt. An der Achtung vieler Normen führt kein Weg vorbei, selbst dann, wenn wir sie nicht schätzen. Dabei gilt: Jedes ethische Gebot und jede Verhaltensnormierung kennen Grenzen. Weder die Wahrheit noch die Gerechtigkeit, die Fürsorge oder die Friedfertigkeit gelten absolut. Wer eine ethische Maxime ohne Kompromisse verfolgt, geht eine große Gefahr ein, im Leben zu scheitern. Viel lieber leben wir mit Grauzonen in unserem Verhalten, weil wir trotz unserer Grundsätze wissen, dass sie uns im Leben helfen und weiterbringen.
Wir haben viele Mechanismen benannt, die dafür sorgen, dass sich das Gute in unserem Handeln oft verflüchtigt. Versuchen wir es an dieser Stelle mit einer kleinen Gesamtzusammenfassung:
Das Gute schlechthin gibt es nicht. Das Gute ist relativ. Als gut erlebe ich das, was ich tue, dann, wenn ich meine, dass mein Tun für andere wertvoll ist. Meine Vorstellungen über wertvolles Verhalten mischen sich aus sozialen Instinkten und den Einfüssen meiner Erziehung. Wir halten für gut, was wir als Kinder gelernt haben, was in unserem Umfeld als gut gilt und was besser zu sein scheint als das Verhalten der schlechtesten Gruppenmitglieder unserer Umgebung. Das Gute, was ich tue, strahlt auf mich zurück. Mein Gehirn belohnt mich dafür mit nachhaltig guten Gefühlen. Zusammen mit vielem anderen nimmt mein gutes Handeln Einfuss auf mein Selbstbild. Es ist mir wichtig, vor mir selbst gut dazustehen. Mein langfristiges Wohlbefinden ist davon stark abhängig. Doch mein Selbstbild entsteht nicht nur im Zwiegespräch mit mir selbst. Es prägt sich aus im Umgang mit anderen. Um akzeptiert
zu sein, gut anzukommen und nicht dumm aufzufallen, bin ich mitunter bereit, meine Grundsätze zu verschieben, mal bewusst und mal unbewusst. Opportunismus und flexible Grundsätze sind ein Teil unserer sozialen Natur. Entstehen dabei kognitive Dissonanzen, so rücken wir unser Selbstbild mit vielen Tricks wieder zurecht. Wir machen kohärent, was nicht kohärent zu sein scheint: mit Vergleichen und Verdrängen, mit Abstraktionen und Worten bis hin zu Selbsttäuschungen. Es ist wichtiger, sich weiterhin zu mögen, als mit sich selbst schonungslos ins Gericht zu gehen. Und uns selbst zu bestätigen ist das zwingendere Gesetz als unsere Verpfichtung zur Wahrheit. Unsere moralischen Vorstellungen sind nicht absolut kohärent, sondern sie sind willkürlich kohärent.
Sollte all dies richtig sein und für die meisten Menschen zutreffen, so stellt sich die Frage, was man daraus lernen kann. Inwieweit trägt unsere Gesellschaft der Tücke des Subjekts Rechnung? Und welche realistischen Ziele kann man in Bezug auf die Moral in unserer Gesellschaft formulieren? Denn wenn nicht alles täuscht, so sind die Bedrohungen, vor denen die wirtschaftlich, sozial und letztlich auch moralisch so erfolgreichen Gesellschaften des Westens heute stehen, die wohl größten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs …
Moral und Gesellschaft
Im Reich der Roten Königin
Woran unsere Gesellschaft krankt
Die Queen war not amused. Anfang November 2008 stellte sie Luis Garicano zur Rede, den Forschungsdirektor des Management Departments der London School of Economics. In Creme-Farben gekleidet und mit obligatorischem Hut war sie zum ersten Mal höchstpersönlich in das weltberühmte Institut gekommen, um ein neues Gebäude einzuweihen. Dabei wollte sie wissen, was ganz England bewegte: »Wie war es eigentlich möglich, dass eine so gewaltige Sache wie die Finanzkrise von niemandem vorausgeahnt worden war?« Wozu bezahlte das Vereinigte Königreich
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