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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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befriedigt und welche nicht? In unserer Gesellschaft und unserer Ökonomie ist dies in erster Linie der Konsum. Was auch immer wir uns unter Lebensfreude vorstellen, unter Freiheit, unter dem Bedürfnis, anders zu sein als andere, unter neuen Genüssen für das Auge, für Ohr, Leib und Magen - für alles gibt es Produkte, die man kaufen kann. Auch unsere Sicherheitsbedürfnisse erfüllen wir uns mit Produkten: mit Versicherungen und mit Gütern.
    Je mehr wir den Sinn unseres Lebens »materialisieren«, umso
besser wird es uns gehen, meinte schon im 19. Jahrhundert der Journalist und Philosoph Max Stirner (1806-1856) in seinem Buch »Der Einzige und sein Eigentum«. Dabei wirbt er für einen Menschen, der seine innere und äußere Freiheit mehrt, indem er sich von allen erdenklichen Verpflichtungen frei macht. Das Einzige, was zählt, ist der unbeschwerte Egoismus. Oder mit Stirner gesagt: »Mir geht nichts über Mich.« 3
    Für einen zeitgenössischen Philosophen wie den Franzosen Pierre Bourdieu (1930-2002), den langjährigen Professor am College de France in Paris, war Stirner ein Prophet des 20. Jahrhunderts. Mit scharfem Blick aktualisierte er dessen Titel 1998 für die Gegenwart: »Der Einzige und sein Eigenheim«. Vor allem in Deutschland, so Bourdieu, erfüllt man Sinnbedürfnisse, indem man sich eine vermeintliche Sicherheit kauft, vorzugsweise durch ein Eigenheim. 4 Selbst Sozialdemokraten träumten seit Jahrzehnten vom gebauten Eigentum. Doch während sich der Hausbesitzer in dem Wahn sieht, Freiheit zu gewinnen, wird er in Wahrheit unfrei. Das Abzahlen der Kredite fesselt ihn eisern an sein Eigenheim, selbst wenn die Immobilie an Wert verliert. Und Ehen bleiben gegen jedes schlechte Gefühl zusammen, weil das Haus abbezahlt werden muss oder man es nicht verlassen will.
    Wir können unsere materiellen Bedürfnisse in einem Ausmaß befriedigen, von dem die Generation unserer Großeltern nicht einmal zu träumen wagte. Aber es mehrt nicht unser Glück. Bereits 1971 fand diese Erkenntnis ihren Einzug in die Sozialpsychologie. Die beiden US-amerikanischen Psychologen Philip Brickman und Donald Campbell führten vor, dass sich, sobald sich die Umstände ändern, auch unsere Anspruchshaltungen verschieben. Was früher spektakulär war, wird innerhalb von kurzer oder mittlerer Zeit normal. Ein paar Jahre später bestätigte Brickman diese Erkenntnis anhand drastischer Beispiele. Sowohl das Glück eines Lottogewinners wie das Unglück eines Unfallopfers pendelten sich zwei Jahre nach dem freudigen oder schlimmen Ereignis wieder auf den ursprünglichen Pegel ein. 5 Nur
psychische Rückschläge, wie etwa eine Scheidung oder ein Jobverlust, passen nicht unbedingt in das Muster. 6
    Für diesen Mechanismus prägte Brickman einen neuen Begriff: die Tretmühle des Glücks (hedonic treadmill). So sehr wir uns auch abstrampeln, so treten wir doch langfristig meist auf der Stelle. Poetischer ausgedrückt bedeutet dies: Unsere ganze Gesellschaft funktioniert nach den gleichen Regeln wie das Reich der Roten Königin in Lewis Carrolls Roman »Alice hinter den Spiegeln«. Die Fortsetzung von »Alice im Wunderland« spielt in der Welt einer verrückten Schachpartie, und Alice ist ständig in Bewegung: »Nun sausten sie so schnell dahin, dass sie beinahe nur noch durch die Luft segelten und den Boden kaum mehr berührten, bis sie plötzlich, als Alice schon der Erschöpfung nahe war, innehielten, und im nächsten Moment saß Alice schwindlig und atemlos am Boden. Voller Überraschung sah sich Alice um. ›Aber ich glaube fast, wir sind die ganze Zeit unter diesem Baum geblieben! Es ist ja alles wie vorher!‹
    ›Selbstverständlich‹, sagte die Königin, ›hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.‹« 7
    Nicht ohne List kritisierte Carroll in diesem Satz den Ungeist des Viktorianischen Zeitalters, das Schneller, Höher, Weiter und Reicher des modernen Kapitalismus. Und was Carroll ahnte, wissen wir heute aus ungezählten Studien. Ab einem mittleren Lebensniveau macht die Mehrung von Besitz nicht mehr dauerhaft glücklich. Daran ändert auch nichts, dass es sehr vielen Menschen grundsätzlich Freude und Spaß macht, etwas zu kaufen. Aber Erwerben ist etwas ganz anderes als Besitzen. Schon Georg Simmel hatte in seiner »Philosophie des Geldes« erklärt, dass die Freude an gekauften Dingen nach einer Weile auf faszinierende Weise verfliegt. 8 Ist der neue Mantel einmal nicht

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