Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
alle anderen - nicht auch auf weiteren Wohlstand verzichten, so lange tun wir das auch nicht. Zumal wir allein ja ohnehin nichts ändern können.
Der allgemeine Misstrauensverdacht gegen die anderen kommt dabei nicht von ungefähr. Er ist eine Folge unserer Wirtschaftsideologie. Wer durch Werbung, Wettbewerb und öffentliche Meinung tagtäglich darauf konditioniert wird, sich Vorteile gegenüber anderen zu verschaffen, verliert leicht sein Solidaritätsgefühl. Aus dieser Perspektive erscheint selbst das verantwortungslose Handeln von Bankern in der Finanzkrise nicht als Auswuchs oder Krebsgeschwür der Gesellschaft. Vielmehr ist es ihr Symptom. Wie viele Menschen in Deutschland, in den USA oder anderswo hätten genauso gierig und kurzsichtig gehandelt wie die maßlosen Ritter vom Gold? Nur dass sie nicht über deren Mittel verfügen. Wer bei der Steuererklärung dem Staat jeden Cent abtrotzt, den besten Handytarif abzockt und auch überall sonst nach Schnäppchen giert - der spürt (vielleicht) eine Restscham, den Großmeistern der Maßlosigkeit ihre Mentalität vorzuwerfen. Dem kurzen Aufschrei über die Abfindungsmilliarden der Banker wohnt noch die stille Bewunderung inne, die die Folgenlosigkeit sicherstellt.
Aus diesem Grund, so scheint es, ist die Empörung über die Finanzwelt alles in allem so verhalten, so privat und so wenig
organisiert. Wie sollte den Bankern unrecht sein, was so vielen anderen recht ist?
Der gesellschaftliche Preis, den wir im Reich der Roten Königin zahlen, ist hoch: Das Verhältnis von Sozialnormen zu Marktnormen in unserer Lebenswelt läuft schon lange aus dem Ruder. Nicht nur in Deutschland, sondern nahezu überall in den Staaten des Westens. Von den Asozialgemeinschaften vieler Schwellenländer gar nicht zu reden. Der psychische Ausverkauf der Seelenreservate an die Unerbittlichkeit des Marktes ist weiter fortgeschritten, als wir wahrhaben wollen. Nicht nur die Unterwäsche, auch jene unseres Bewusstseins ist mit Markennamen bestickt. Die Psychen nicht nur unserer Kinder sind ein Parcours von Jingles und Werbespots. Das Habenwollen ist wichtiger als das Seinwollen.
Aus Bürgern sind User geworden und aus Wählern Kunden. Und der Anteil des Staates daran ist unübersehbar. Er findet sich sichtbar in den Fehlattributionen der Schröder-Zeit. Die Bundesanstalt für Arbeit tat jahrzehntelang ihren Dienst, bis sie eine »Agentur für Arbeit« werden musste, um unseren kapitalistischen Seelen besser Rechnung zu tragen. Selbst die Arbeitslosen als Nichtteilnehmer des Arbeitsmarktes sollten sich in dem Gefühl sonnen dürfen, im marktwirtschaftlichen Spiel mitzumischen, wenn auch auf Kosten eines Schwindels: Eine Agentur kostet Geld, sie verlangt Provision. Der Bund dagegen tut dies bekanntlich nicht. Er ist keine Agentur, und er unterhält auch keine. Clownesker noch die Erfindung der »Ich-AG«. Was nach Markt und Börse klang, sollte gut klingen. Was kümmerte es die Sachwalter des Scheins, dass der auf sich selbst gestellte Handlanger mit einer Aktiengesellschaft etwa so viel zu tun hatte wie eine Vorstadtspielothek mit dem Paradies.
Wer tagtäglich indoktriniert wird, sich Vorteile gegenüber anderen zu verschaffen, genießt eine staatsbürgerliche Erziehung von zweifelhaftem Zuschnitt. Ein Milliardenaufwand an Werbegeldern bombardiert die wackeligen Behausungen unserer Werte:
die Moral der Kindheit, ein kleiner, meist winziger Rest Religion und ein bisschen Demokratieverständnis aus der Schulzeit. Ein ungleicher Kampf. Niemand fragt heute mehr, ob sein Premiumtarif gegenüber anderen fair ist.
Diese mangelnde Solidarität ist die Folge unseres Wirtschaftens. Wenn jeder anders als die anderen sein will, gibt es kein Wir mehr. »Wir« - das sind immer die anderen. Markt- und Markenwirtschaft erzeugen kein Zusammengehörigkeitsgefühl, sondern moralische Zeitarbeiter ohne Milieubindung. Das Merkwürdige daran ist: Der Wohlstand, nach dem sich viele Menschen sehnen, ist genau das Gegenteil! Es ist ein Mehr an Lebensqualität durch mehr Muße, mehr Freizeit, weniger Stress, einen erfüllenden Beruf und mehr Zeit für Freunde und Familie. Denn wie wir eigentlich alle wissen: Wir brauchen nicht mehr Zeug, sondern mehr Zeit.
Die Krise unserer Zeit ist mehr als nur eine Finanz- oder Wirtschaftskrise. Sie ist eine Gesellschaftskrise. Unsere Wirtschaft, die uns in vielen Dingen weit nach vorn gebracht hat, hat uns in anderen geschadet. Noch nie zuvor war eine Gesellschaft so sehr
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