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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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zu entwickeln ist, steht außer Frage. Doch wie es bisher ging, kann es definitiv nicht weitergehen. »Die Messung des BIP in den Vereinigten Staaten hat uns kein aussagekräftiges Bild der wirtschaftlichen Vorgänge vor dem Platzen der Blase geliefert. Amerika glaubte, es ginge ihm besser, als es ihm in Wirklichkeit ging, und das taten auch andere Länder. Spekulativ überhöhte Preise blähten den Wert von Investitionen in Immobilien sowie die Unternehmensgewinne auf.« 6 Die Quantität besagt also viel weniger, als die Politik ihr gerne unterstellt. »Ein größerer Kuchen bedeutet nicht, dass jeder - oder auch nur die meisten - ein größeres Stück bekommt.« 7
    Viele Wirtschaftswissenschaftler bezweifeln heute, dass sich Wohlstand mit Wachstum gleichsetzen lässt. Doch was dabei hinterfragt wird, ist mehr als ein Messinstrument. Es ist eine Weltanschauung: der Glaube, dass es in unserer Gesellschaft materiell immer weiter vorwärtsgehen müsse, koste es, was es wolle. Wie beim Staatssozialismus ordnet die Weltanschauung den Menschen einer Ideologie unter. Nicht um den einzelnen Bürger geht es - es geht ums Wachstum um jeden Preis.

    Weil die westliche Welt dies jahrzehntelang immer nur so gesehen hat und nicht anders, fühlt sie sich ökonomisch auch nur für das Wachstum zuständig und nicht für die Menschen. Der Hunger in der Welt? Kein Problem der Weltwirtschaft, zuständig sind Hilfsorganisationen wie »Brot für die Welt«. Die Privatisierung natürlicher Ressourcen wie das Wasser in der Dritten Welt? Nun, das sind die Gesetze des »freien Marktes«. Die Weltwirtschaft geht das nichts an. Die Richtung zu bestimmen, in die unsere Wirtschaft galoppiert, ist nicht die Aufgabe heutiger Ökonomen. Aber es ist auch und schon lange nicht mehr die Aufgabe der Politiker. Es ist die Aufgabe von niemandem.
    Für Wirtschaftsphilosophen aller Couleur ist dies das Eingeständnis einer Ohnmacht. Wenn niemand darüber wacht, dass und wie die Ökonomie ihre Kernaufgabe erfüllt, herrscht das Prinzip des Fortwurstelns. Und da tatsächlich niemand eine Richtung vorgibt, lässt sich mit Recht sagen, dass es »die Weltwirtschaft« eigentlich gar nicht gibt, sondern nur die Einzelinteressen von Staaten und Konzernen.
    Die Richtung, in die unsere Wirtschaft fließt, mehrt unser Glück nicht. Belege dafür gibt es hundertfach. Die berühmteste Untersuchung über den Wohlstand und das Lebensglück der Nationen ist der World Values Survey. 8 Die Wissenschaftler untersuchten 82 verschiedene Länder. Überall wollten sie wissen, wie glücklich sich die Menschen fühlten. Das Ergebnis: Bis zu einem durchschnittlichen Jahresverdienst von etwa 15 000 Dollar steigt das Glück mit dem Einkommen an. Wer jedoch mehr als 15 000 Dollar im Jahr verdient, wird mit allen weiteren Einkünften nicht mehr glücklicher. So etwa zeigen Langzeitstudien aus den USA, dass sich das Lebensglück des durchschnittlichen US-Amerikaners seit 1946 nicht vergrößert hat. 9 Und das, obwohl das Durchschnittseinkommen heute drei Mal so hoch ist wie damals.
    Die Ergebnisse für Deutschland sprechen eine ähnliche Sprache. Nach Erkenntnissen des Allensbacher Instituts für Demoskopie stieg das Lebensglück in Deutschland nur so lange mit
dem Lebensstandard, solange die Bevölkerung ziemlich arm war. Doch seit Ende der 1960er Jahre nimmt das Glück der Deutschen nicht mehr zu. Eine Studie aus dem Jahr 1970 zeitigt demnach das gleiche Ergebnis wie im Jahr 2002: Etwa sechzig Prozent der deutschen Bevölkerung meinen, dass sie mit ihrem Leben zufrieden oder sehr zufrieden sind. Seit 1970 hat sich die Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik mehr als verdoppelt. Und während der durchschnittliche Deutsche 1970 umgerechnet auf die Kaufkraft 16 000 Euro im Jahr verdiente, sind es heute etwa 25 000 Euro. Das Glück jedoch blieb konstant auf dem gleichen Niveau.
    Die Anstrengung, die die Ökonomie 1970 für unser Lebensglück aufbieten musste, war nur halb zu groß wie heute. Am Maßstab des Glücks gemessen sind wir heute wirtschaftlich nur noch halb so erfolgreich wie damals: der doppelte Aufwand für das gleiche Resultat.
    Dass Wohlstand nicht gleich Wohlbefinden ist, wissen die meisten Menschen in unserem Land auch. Trotzdem streben viele nach einem materiell höheren Lebensstandard. Allerdings nicht um jeden Preis. Die Gier der Wirtschaft nach Wachstum ist viel größer als die Summe der Wohlstandsgier ihrer Bevölkerung. Bei einer Umfrage im Jahr 2007 erklärte

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