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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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weniger als ein Drittel (27 Prozent) der befragten Bundesbürger, dass sie nach mehr materiellem Besitz strebten. 10 Mehr als die Hälfte (59 Prozent) meinte, dass sie mit dem, was sie hat, zufrieden ist. Und zehn Prozent der Bevölkerung konnte sich auch ein erfülltes Leben mit weniger Einkommen und Besitz vorstellen. So gesehen, schreibt Miegel, »kennen die allermeisten Maß und Ziel. Sie wissen, wann sie genug gegessen und getrunken haben, ihre Kleiderschränke voll und ihre Wohnwünsche befriedigt sind. Ist das der Fall, steigern zusätzliche materielle Güter ihre Lebenszufriedenheit nicht mehr. Keiner möchte hungern und frieren. Aber nur wenige fühlen sich glücklicher, wenn sie einen Zobelpelz tragen oder einen Maybach fahren.« 11

    Obwohl sich nahezu alle einig sind, dass materieller Wohlstand und Wohlbefinden nicht identisch sind, hängt unsere Gesellschaft psychologisch fest an der Idee, den materiellen Wohlstand weiter zu mehren. Mag sein, dass Sie während eines Urlaubs, sagen wir in Bhutan, das ein oder andere Mal denken, dass es wichtiger ist, etwas für die Seele zu tun und spirituelle Kraft zu tanken, als weiter im Hamsterrad der Wohlstandsmehrung zu treten. Doch wenn eine Partei oder die Regierung Ihnen die Hälfte Ihres Einkommens und Besitzes nimmt, verfliegt Ihnen die Himalaya-Romantik im Geldumdrehen.
    Das, was viele prinzipiell für richtig halten - ein Leben in Zufriedenheit, geistiger Erfüllung und im Einklang mit den eigenen Werten -, halten wir eben nur prinzipiell für richtig. Doch mit Prinzipien ist das in unserem Leben so eine Sache. Wie im zweiten Teil gezeigt, sind sie nur selten handlungsleitend. Denn wie die Sozialpsychologen Harald Welzer und Claus Leggewie, der Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, in ihrem klugen Buch »Das Ende der Welt, wie wir sie kannten« schreiben, können Menschen »zwischen ihr Bewusstsein und ihre Handlungsoptionen Welten legen«, ohne dass sie »das geringste Problem damit haben, die eklatantesten Widersprüche mühelos zu integrieren und im Alltag zu leben. Dass uns das wundert, liegt an dem Menschenbild, das sich aus Moralphilosophie und -theologie, vermutlich besonders aus deren protestantischer Prägung, in unsere Vorstellungswelt eingeschlichen hat und das davon ausgeht, dass Menschen Widerspruchsfreiheit anstreben. Verhält sich jemand offensichtlich entgegen seinen Einstellungen, attestiert man ihm umgehend »Schizophrenie« oder einen wenig festen Charakter. Die Vorstellung allerdings, dass die Motive für Handlungen ihre Ursache in der Persönlichkeitsstruktur von Menschen haben und dass Einstellungen handlungsleitend sind, ist nicht sehr realistisch.« 12
    Was wir grundsätzlich für richtig halten und wie wir tatsächlich leben - das sind sehr verschiedene Dinge. Schon die Polizisten
des Hamburger Bataillons hielten es nicht für grundsätzlich richtig, Frauen, Kinder und Säuglinge zu ermorden, und taten es schließlich doch. In Bezug auf die Probleme unserer Gesellschaft haben wir es zudem mit sehr abstrakten Sorgen zu tun. Der Klimawandel ist ebenso unsichtbar wie die schonungslose Ausplünderung von Ressourcen in der Dritten Welt. Dass unsere sozialen Sicherungssysteme bedroht sind, wissen wir, aber wir spüren es (noch) nicht. Dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergeht, bekommen wir im Alltag nur selten mit. Und außerdem: Was können denn ausgerechnet wir dagegen tun?
    Die größten Probleme unseres Wirtschaftens sind vergleichsweise unsichtbar. Wie gezeigt (vgl. Der moralische Tunnelblick. Tierische Gefühle, menschliche Verantwortung), haben Menschen kein biologisch eingebautes Fernlicht, sondern bewegen sich in der Regel eher tastend vorwärts. Im Alltag entscheiden wir fast nie nach einer grundsätzlichen moralischen Überzeugung, sondern immer nach dem, was uns gerade in der Situation am besten erscheint. Wir fliegen mit dem Flugzeug von München nach Berlin, obwohl wir wissen, dass dies ökologisch nicht vertretbar ist, aber die Bahnfahrt dauert uns nun wirklich zu lange. (Als ich unlängst im Zusammensein mit einigen Managern erwähnte, dass ich es fast immer vermeide, innerhalb Deutschlands zu fliegen, warfen sich die Herren vielsagende Blicke zu, denen leicht zu entraten war, was sie meinten. Offensichtlich war ich im Gegensatz zu ihnen nicht so gehetzt, beschäftigt und ausgelastet, dass ich mir ein solches Gutmenschentum leisten konnte …)
    Wie Welzer und Leggewie zeigen, hält uns

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