Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Verbrennungsanlagen erfordern - steigert dies das BIP. Wenn unsere Gefängnisse überfüllt sind und neue gebaut werden - steigert dies das BIP. Selbst eine Ölkatastrophe wie jene an der Südküste der USA wirkt sich vermutlich positiv auf das BIP aus.
Was für einen Unsinn legen wir eigentlich als Maßstab an für den Erfolg unserer Wirtschaft und unserer Politik? Und wie viel von dem, was das tatsächliche Wohlbefinden einer Gesellschaft ausmacht, fällt unter den Tisch? Wo bleibt bei dieser Berechnung die unbezahlte Arbeit der Mütter und Väter, Großeltern und Menschen im Ehrenamt? Und was sagt das BIP über den Nutzen? »Das BIP pro Kopf (pro Person) misst zum Beispiel, wie hoch unsere Ausgaben für das Gesundheitswesen sind, aber nicht den Erfolg, den wir mit diesen Ausgaben erzielen - unseren Gesundheitszustand, wie er sich zum Beispiel in der Lebenserwartung widerspiegelt. Während unser Gesundheitssystem immer ineffizienter wird, kann das BIP also weiter ansteigen, obwohl sich der allgemeine Gesundheitszustand der Bevölkerung verschlechtert« 4 , schreibt der US-amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz (*1943) von der Columbia University in New York.
Mit dem BIP treffen wir keine Aussagen über das Wohlbefinden der Menschen - das eigentliche Ziel der Ökonomie. Sauberes Trinkwasser wird ebenso wenig erfasst wie gute Lehrer, freundliche Nachbarn, eine gute Sozialversicherung oder eine ausgeglichene Verteilung des Wohlstandes. Und eine Diktatur mit einer Willkürjustiz schneidet keinen Deut schlechter ab als eine funktionierende Demokratie. Lebensqualität bleibt ebenso
unberücksichtigt wie Gerechtigkeit. Alles Wesentliche ist ungemessen und vermutlich auch unmessbar. Dennoch wird unverdrossen so getan, als ob es auf nichts so sehr ankäme wie das BIP. »Wissenschaft und Politik gleichen Ärzten, die mit Hilfe von Thermometern den Blutdruck zu bestimmen versuchen.« 5
Die Art und Weise, wie wir unseren Wohlstand messen, verwechselt Qualität mit Quantität. Den Sozialwissenschaftlern, Soziologen und Ökonomen ist dies schon lange bekannt. Nur die Politik, so scheint es, hinkt dieser Entwicklung hinterher. Einer der wenigen Staatschefs der westlichen Welt, die dieses Problem offensichtlich ernst nehmen, ist der französische Präsident Nicolas Sarkozy. Im Februar 2008 berief er die beiden Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und Amartya Sen (*1933) zu sich. Gemeinsam gründeten sie eine »Arbeitsgruppe zur Verbesserung der Messung wirtschaftlicher Leistung und gesellschaftlichen Fortschritts«.
Vor allem Sens Erfahrung sollte dem Präsidenten helfen, das Wohlbefinden seines Volkes genau zu erfassen. In vielerlei Hinsicht ist der indische Ökonom ein würdiger Nachfolger des Marquis de Condorcet. Wie der französische Aufklärer des 18. Jahrhunderts, so glaubt auch Sen an den unbeirrbaren Fortschritt der Menschheit durch die Demokratie. Seiner Überzeugung nach entscheiden sich nahezu alle menschlichen Gemeinschaften vernünftig, solange man sie nicht manipuliert. Und als Schlüssel des Wohlstands erkennt er nicht die Summe der produzierten Waren, sondern Werte und Bildung.
Ende der 1980er Jahre veranlasste Sen die Vereinten Nationen dazu, einen neuen Index zur Messung des Wohlstands zu schaffen. Der Human Development Index soll das messen, was Aristoteles von der Moral, der Politik und der Wirtschaft verlangte: die Chancen auf ein gutes Leben für möglichst viele Menschen. »Entwicklung« in diesem Zusammenhang bedeutet nicht nur Wirtschaftswachstum, sondern auch die Qualität der Ernährung, die allgemeine Gesundheitslage, die Bildungs- und Freizeitmöglichkeiten
sowie die Chancen des Einzelnen, politisch mitzubestimmen. An der Spitze der aktuellen Bilanz (2009) stehen die Länder Norwegen und Australien; Deutschland liegt auf Rang 22, die glücklichen Bhutaner nur auf 132, und am Ende liegen Afghanistan und Niger.
Als Vorsitzende von Sarkozys Kommission kommen Stiglitz und Sen zu der Ansicht, dass jede weitere Messung von Wirtschaftsleistungen abbilden muss, ob ein Staat nachhaltig und vorausschauend wirtschaftet. Wer Güter misst, der muss auch Müll messen. Und wer Produktionskraft misst, der muss auch die verbrauchten Ressourcen benennen. Mit anderen Worten gesagt: Jedes Wachstum der Gesellschaft muss sich danach bemessen lassen, ob es sich angesichts aller ökologischen und sozialen Folgekosten für die Bevölkerung lohnt oder nicht.
Dass ein solches Messinstrument sehr schwer
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