Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
gefährlicher Wachstumswahn: »Was hier postuliert wird, ist nicht weniger als die Verdopplung der Güter- und Dienstmenge alle 23 Jahre beziehungsweise die Vertausendfachung innerhalb von 234 Jahren. … Große Teile der Welt - an ihrer Spitze die frühindustrialisierten Länder Europas, Nordamerika, Japan, Australien und einige andere - hängen am Wirtschaftswachstum wie Alkoholiker an der Flasche oder Drogensüchtige an der Nadel. Stockt der Nachschub auch nur kurzzeitig, werden sie von Panikattacken befallen und von existenziellen Ängsten geplagt. Bloß keine Unterbrechung der Gewohnheiten! Immer weiter und möglichst immer mehr - das muss einfach sein.
Die Wirtschaft muss wachsen, fortwährend wachsen. Wächst sie einmal nicht, ist das ein Drama, eine ›Rezession‹; schrumpft sie gar, ist das eine Tragödie, eine ›Depression‹. Dann schrillen die Alarmglocken, werden mit breitem Pinsel düstere Zukunftsszenarien gemalt und ist kein historischer Vergleich bedrückend genug, um den Ernst der Lage angemessen zu beschreiben. Die Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, weltweite Hungerepidemien, das Elend von vielen hundert Millionen - das alles war schlimm und ist schlimm, relativiert sich jedoch in Anbetracht der Nöte von Völkern, die für ein Weilchen den Schinkenspeck aufs Butterbrot ein wenig dünner schneiden müssen.« 4
Wer sagt, dass unsere Wirtschaft möglicherweise nicht mehr wächst und auch nicht zu wachsen braucht, enthüllt sich in den Augen der Öffentlichkeit häufig noch immer als Spinner, Träumer oder Schwarzmaler. Wenn alle in die falsche Richtung fahren, erscheint der Mahner als Geisterfahrer, ob auf der Osterinsel oder heute bei uns.
Doch warum halten wir so eisern am Wachstum fest, wenn es doch gar nicht unser eigentliches Ziel ist, sondern die Lebenszufriedenheit? Die gleiche Frage stellte sich bereits im 19. Jahrhundert der bedeutende britische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill (1806-1873). Sein wirtschaftliches Ideal war nicht die Expansion um jeden Preis, sondern eine »stationäre Wirtschaft«. Nicht das rein materielle, sondern das immaterielle Wachstum entscheide über das Glück der Gesellschaft. Oder anders gesagt: Ein gutes Wachstum ist nicht in erster Linie quantitativ, sondern qualitativ. Und nicht Konkurrenz mache den Menschen glücklich, sondern Kooperation: »Als der beste Zustand für die menschliche Natur erscheint einer, in dem, während keiner arm ist, niemand reicher zu sein wünscht und niemand Grund zur Besorgnis hat, dass er durch die Bestrebungen anderer, die sich vorwärtsdrängen, zurückgeschoben wird.« 5
Mill vermutete, dass eine Wirtschaft sich dann umstellen müsse,
wenn ihr Wachstumsziel erreicht ist. Sind die Bedürfnisse einmal befriedigt, die Armut beseitigt, die Bildung demokratisiert, der Lebensstandard gesichert, so brauche die Wirtschaft materiell auch nicht weiter zu wachsen. Aller weitere Fortschritt sei nun ein immaterieller Fortschritt des Wissens, der Kultur und der Intellektualität. In solch einer Lage brauchen die Menschen nicht mehr Geld. Sie können sich erlauben, weniger zu arbeiten. Und die Bevölkerung muss auch nicht mehr wachsen. Wer jetzt noch nach Wachstum giere, der sei nicht weise, sondern Opfer einer Sucht. Und je besser wir diese Sucht loswürden, umso größer sei der kulturelle und moralische Fortschritt der Gesellschaft.
Für Mill sind Materialismus und Wachstum kein Lebensinhalt, sondern eine Art Zwischenstufe auf dem Weg zu einer moralischen Gesellschaft. Nicht anders sah es auch Keynes in den 1920er Jahren. Und diese Gedanken erscheinen so aktuell wie nie zuvor. Dass wir längst genug Zeug haben, ist heute das Credo nahezu aller schlauen Bücher zur Lage des Kapitalismus: weniger Wachstum, mehr Soziales, mehr Regulierung, weniger Spekulation, mehr Anstand, weniger Gier. Mit Ausnahme einiger Lobbyisten im Gewand von Mahnern, die in der Maske der Empörung noch immer zu bewahren suchen, was an Falschem längst erkannt ist, 6 sind sich die meisten einig.
In Deutschland waren alle Voraussetzungen für einen »stationären Zustand« Ende der 1960er Jahre sehr weitgehend erfüllt. Die Wirtschaft stagnierte, und die offenen Wünsche der Gesellschaft betrafen weniger das Wirtschaftswachstum als den Zuwachs an Freiheitsrechten. Das Bildungssystem wurde stärker demokratisiert, die Mitbestimmung in den Betrieben eingeführt und die Sexualmoral liberalisiert. Doch der Staat lebte nur schwer
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