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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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mehr Gestaltungsspielräume des Bürgertums zu fordern bedeutet nicht, sozialromantisch vernebelt zu sein. Viele Menschen, vor allem in den ärmeren Vierteln, werden sich kaum zu Gemeinschaften zusammenschließen wie die Bürger vom Rathenauplatz. Verwahrloste Stadtbezirke, in denen die Verlierer der Wohlstandsgesellschaft neben Migranten aus den ärmeren Teilen der Welt leben, haben eine deutlich hoffnungslosere Sozialstruktur. Wer mit Integrationsproblemen kämpft oder sich schlicht nicht integrieren möchte, wer viele »bürgerliche« Werte unserer Gesellschaft nicht nur nicht teilt, sondern mitunter auch bekämpft, bringt unserem allgemeinen Zusammenleben wenig Nutzen.
    Doch selbst wenn die erhöhte Verantwortung der bürgerlichen Mittelschichten nicht alle Probleme löst - letzten Endes wird es gleichwohl in fast jeder Hinsicht auf diese Schicht ankommen, den Staat zu erhalten und seine Lasten zu schultern. Weder die Oberschicht noch die Unterschicht bildet das Rückgrat unserer Gesellschaft; die eine, weil sie im Zweifelsfall jederzeit woanders leben könnte und lebt, die andere, da sie sich nicht zuständig fühlt, weil nicht zugehörig. Mit jeder Aufgabe, die der Staat in Zukunft nicht mehr finanzieren kann, muss die bürgerliche Mittelschicht einspringen und ihren Anteil leisten. Pathetisch formuliert ist dieses Engagement der Dank der Bürger an den Staat für die historisch außergewöhnliche Wohlstandsentwicklung der letzten Jahrzehnte. Pragmatisch ist es ein unverzichtbares Mittel, um unsere Gesellschaft auch in Zukunft in der Breite lebenswert zu erhalten.
    Die gute Nachricht dabei ist: An engagierten Bürgern besteht eigentlich kein Mangel. Nach Angaben des Freiwilligensurveys und der Enquete-Kommission zum bürgerschaftlichen Engagement ist in etwa jeder dritte Bundesbürger über 14 Jahren ehrenamtlich im Einsatz. Ein Großteil davon fällt auf Sportvereine. Aber auch ohne sie ist das Engagement sehr beträchtlich. Eine vergleichbare, junge Entwicklung ist dabei der Einsatz des gebildeten
Bürgertums, sich um die Kinder aus sozial wenig privilegierten Schichten zu kümmern. Dabei steht völlig außer Frage, dass es sich hierbei um eine der brennendsten und wichtigsten Aufgaben überhaupt handelt.
    Im Jahr 2003 zum Beispiel gründete der Buchhändler Otto Stender in Hannover das Projekt »Mentor - Die Leselernhelfer«. 6 Die Idee dahinter ist so einfach wie bestechend. Ehrenamtlich engagierte Bürger gründen in ihrer Stadt einen Ableger des Projekts und suchen sich Kooperationspartner unter den Schulen. Mit Anzeigen oder im Freundes- und Bekanntenkreis finden sich häufig schnell Bürger, oft sind es Rentner und Pensionäre, die sich nach kurzer professioneller Schulung um »Problemkinder« in den Schulen kümmern. Sie bringen ihnen nachmittags das Lesen bei, wählen mit ihnen Bücher aus und unterhalten sich darüber. Dass die Kinder Lesekompetenz erwerben, ist der erste Schritt zur Bildung. Und nur Bildung kann diesen Kindern helfen, aus ihrem sozialen Umfeld und dessen oft problematischen Werten herauszuwachsen. Mittlerweile gibt es Mentor-Projekte in zahlreichen deutschen Städten mit rund 6000 betreuten Kindern. Nach einer Kontroll-Erhebung von Mentor Hamburg e. V. gelang es den Lesehelfern innerhalb eines Jahres, 64 Prozent der Kinder zu flüssigerem und besserem Lesen zu verhelfen. Und nur vier Prozent der Kinder machten keine Fortschritte. 7
    Dass hier vor allem die ältere Generation angesprochen ist, ist durchaus verständlich. Unsere Rentner und Pensionäre gehören der »goldenen Generation« dieser Republik an mit sicheren Alterseinkünften und hoher Lebenserwartung. In dieser unglaublich komfortablen Situation, die sie nicht allein aus eigener Leistung geschaffen haben, stehen sie durchaus in einer moralischen Bringschuld. Langfristig gesehen freilich müssen alle Generationen die Lücke füllen, die der zunehmend überforderte Staat offen lässt. Seine Rolle in diesem Spiel ist dabei durchaus nicht immer glücklich. Engagierte Bürger, wie jene am Rathenauplatz,
treffen allzu oft auf öffentliche Stellen, die ihnen ihren Einsatz nicht leichter machen, sondern schwerer. Ein kleinlicher Hickhack um Zuständigkeit und Macht, der freilich nichts als ein Übergangsphänomen sein wird. In Zukunft nämlich werden Staat und Kommunen froh sein müssen um vieles, was ihnen erleichtert oder abgenommen wird.
    Überlegungen wie diese stoßen in Politik und Gesellschaft noch immer auf ein geteiltes

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