Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Obdachloser in der Wissenschaft, wie Karl Marx einer war oder Sigmund Freud. Eine Affenpsychologie, die diesen Namen tatsächlich verdiente, gab es vor ihm nicht. Verhaltensforscher untersuchten das Sozialverhalten von Primaten nach dogmatischen biologischen Regeln wie jenen von Trivers und Hamilton. Und Philosophen interessierten sich überhaupt nicht für Affen. »Wer den Pavian versteht, würde mehr zur Metaphysik beitragen als John Locke«, prophezeite einst der junge Darwin in seinem Notizbuch von 1838. De Waal hingegen gilt bis heute nicht als Philosoph. Immer noch trifft ihn das Desinteresse der Hochschulphilosophie, die das Wort »Kant« mit Lust, das Wort »Pavian« dagegen noch immer mit Unlust hört.
Nach seiner Doktorarbeit an der Universität Utrecht über aggressives Verhalten und Allianzen in einer Gruppe von Makaken beobachtete de Waal sechs Jahre lang die Schimpansen von Arnheim. 1 Er studierte Konflikte und Versöhnungsstrategien, das Verteilen von Nahrung und die Sozialstrukturen. Er war einer der ersten Biologen, die verstanden, dass Lebewesen, die Absichten haben und erkennen, sich deutlich anders verhalten als Lebewesen, die dies nicht können. Die Menschenaffen, die er beobachtete, besaßen eine erstaunliche Intelligenz. Sie waren in der Lage, sich auf sehr differenzierte Weise zu verständigen. Sie hatten einen Sinn für soziale Spielregeln. Sie konnten sich als ein »Selbst« von anderen unterscheiden. Und sie hatten ein Gedächtnis, das es ihnen erlaubte, Ereignisse der Gegenwart und der Vergangenheit aufeinander zu beziehen.
Vor zehn Jahren startete de Waal in Atlanta eine Versuchsreihe
von richtungsweisender Bedeutung. Sein Studienobjekt waren diesmal keine Schimpansen oder Bonobos, sondern südamerikanische Kapuzineraffen. 2 Bei Affenkennern gelten die Affen der Neuen Welt im Vergleich zu den afrikanischen und asiatischen Affen eher als etwas minderbemittelt. Doch Kapuziner machen eine Ausnahme. Unter den Affen Südamerikas sind sie die Stars. Die flinken Baumbewohner des Amazonas-Regenwaldes sind besonders langlebig. Mit annähernd fünfzig Jahren werden sie in etwa so alt wie Menschenaffen. Die Größe und das Gewicht ihrer Gehirne sind außergewöhnlich. Ihr Sozialleben ist vergleichsweise friedfertig und sehr komplex. Kein Wunder, dass sie bei Menschen seit langer Zeit beliebt sind: als Heimtiere, als Begleiter von Drehorgelspielern, als Filmstars und als Helfer für körperbehinderte Menschen.
De Waal und seine Kollegin Sarah Brosnan teilten ihre Gruppe von Kapuzinern in eine Reihe von Pärchen. Das Versuchsziel war ehrgeizig. Lebewesen, die Absichten erkennen können, hegen Erwartungen. Je nachdem, was ich tue, reagiert ein anderer feindselig oder freundlich auf mich. Gemeinhin treffen mich diese Reaktionen nicht wie ein Blitzschlag, sondern ich habe sie vorher erwartet. Wenn ich »bitte« sage, erwarte ich eher, dass mir ein Wunsch erfüllt wird, als wenn ich einen Befehl belle. Doch woher kommen Erwartungen? Haben nur Menschen Erwartungen oder auch Affen? Und kann man die Erwartungshaltung von Affen in einem Versuch sichtbar machen?
Das Thema der Erwartung, das Brosnan und de Waal aussuchten, war besonders anspruchsvoll: Sie wollten herausfinden, ob Kapuziner erwarten, dass es im Umgang mit ihnen fair zugeht. Aus diesem Grund provozierten die Forscher die Affen nach allen Regeln der Kunst. Sie behandelten die einzelnen Tiere im Vergleich zueinander ungerecht, zogen das eine vor und speisten das andere billig ab.
Am Anfang war die Welt für die Kapuziner noch in Ordnung. Die Forscher warfen ihnen Spielmarken in den Käfig. Gaben die
Äffchen diese Marken zurück, so erhielten sie dafür ein Stückchen Gurke oder eine Weintraube. Der eine Kapuziner bekam immer genau das Gleiche für sein Zurückreichen der Marke wie der andere.
Doch dann begann die Ungerechtigkeit. In einem zweiten Versuch bekam einer der beiden Affen für seine Marken immer ein Gurkenstück. Der andere dagegen bekam jedes Mal eine viel schmackhaftere Weintraube. Der mit dem Stück Gurke Abgespeiste konnte genau beobachten, wie sein Kumpan für dieselbe Leistung, die Marke zurückzugeben, eine viel größere Belohnung bekam.
Was passierte? Schon nach kurzer Zeit verlor der Affe mit den faden Gurkenstückchen sichtbar die Lust. Er weigerte sich weiter mitzuspielen. Die Marken blieben im Käfig liegen. Noch ungehaltener wurde der Schlechtbehandelte, als er mit ansehen musste, wie der Gefährte seine Weintrauben
Weitere Kostenlose Bücher