Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
schließlich sogar »umsonst« bekam, ohne etwas dafür tun zu müssen. An diesem Punkt begann der Zu-kurz-Gekommene ein wildes Gekreische, warf seine Spielmarken aus dem Käfig und verschmähte vollständig seinen Gurkenlohn.
Wie konnte ein Stück Gurke, das vorher noch recht begehrt gewesen war, in so kurzer Zeit seinen Wert verlieren? Ganz offensichtlich verglichen die Tiere ihre eigene Belohnung mit der Belohnung der anderen. Und ihre Erwartungshaltung schien zu sein, dass sie für die gleiche Tätigkeit auch den gleichen Lohn erhalten sollten. Als dies nicht mehr der Fall war, stieg in ihnen ein Gefühl des Unmuts auf - das Gefühl, »unfair« behandelt worden zu sein.
Um sicher zu sein, dass sie das Richtige beobachtet hatten, machten Brosnan und de Waal noch einen Kontrolltest. Könnte es nicht sein, dass die Äffchen einfach nur die Lust verloren, wenn für ihre Arbeit eine höhere Belohnung - also eine Weintraube - in Sicht war? Die Forscher drapierten ein paar Weintrauben in Sichtweite der Tiere und führten ihr Markentausch-Spiel ausschließlich
mit Gurken durch. Dieses Mal jedoch spielten die Kapuziner bereitwillig mit. Wenn keiner eine Weintraube bekam, dann konnte man eben auch für Gurken arbeiten.
Bei all den Versuchen konnte keiner der Forscher den Tieren ins Gehirn sehen. Über die Motive der Affen kann man nur spekulieren. Doch de Waal ist sich sicher, »dass Tieraffen - wie Menschen - sich von sozialen Emotionen leiten lassen«. Und diese Emotionen »steuern die Reaktionen des Individuums auf die Leistungen, Gewinne, Verluste und Einstellungen von anderen«. 3 Da Kapuziner in der Natur sehr kooperativ leben und auch ihre Nahrung recht gerne teilen, scheinen sie zu erwarten, dass niemand benachteiligt wird.
Kapuzineraffen sind nicht unsere nächsten Verwandten. Dennoch können sie uns einigen Aufschluss geben. Auch Affen, so scheint es, hegen bestimmte soziale Erwartungen. Und sie haben ein Gefühl dafür, wie andere sie behandeln sollten. Von Kapuzineraffen lernen bedeutet, zu sehen, dass Lebewesen, die eine ungefähre Vorstellung von ihrem Selbst haben, Erwartungen und Ansprüche daran stellen, wie mit ihnen umgegangen werden soll. Und es bedeutet zu sehen, wie der hoch ausgebildete Gerechtigkeitssinn des Menschen »irgendwo seinen Anfang genommen haben« könnte »und dass das Selbst der logische Ort ist, wo man nach seinem Ursprung suchen sollte. Wenn es die ichbezogene Form erst einmal gibt, kann sie so ausgebaut werden, dass sie andere Individuen mit einschließt.« 4
Die Fähigkeit zur Fairness, so die Pointe, ist keine kulturelle Zutat oder exklusiv menschliche Verabredung. Sie wurzelt tief im Tierreich. Doch ist das Gefühl für Unfairness, das den abgespeisten Kapuziner überkam, bereits das Gleiche wie ein Gefühl für Fairness? Auch de Waal hat einigen Zweifel, dass man von einem Gefühl für Fairness bei Affen reden sollte. Ein »fairer« Affe hätte seine Weintrauben vielleicht auch mit dem Zu-kurz-Gekommenen geteilt und seinen Vorteil kompensiert. So gesehen erscheint es besser, nicht von einem Gerechtigkeitssinn bei
Kapuzineraffen zu sprechen - das wäre zu viel -, wohl aber von einem elementaren Sinn für Unfairness.
Auch bei Menschen ist das Gefühl für eine erlittene Unfairness viel größer als das Gefühl der Fairness gegenüber anderen. Als Stiefvater von drei Kindern, die noch nicht ganz der Pubertät entwachsen sind, hegt man nicht ganz unberechtigte Zweifel daran, dass die menschliche Natur den Sinn für Fairness ebenso tief verwurzelt hat wie jenen für Unfairness. Pubertierende nutzen gerne ihre neu erworbene Vernunft und Rhetorik, um auszuprobieren, wie weit man kommt, wenn man Fairness einseitig auslegt. Für sie ist es die Zeit, in der die Eltern anstrengend werden. Der tiefere Sinn der Scharmützel liegt vermutlich darin, aus dem Scheitern dieses Ego-Programms klug zu werden. Denn ganz offensichtlich vervollkommnet sich das Fairness-Programm erst mit dem Erreichen des Erwachsenenalters - falls es sich überhaupt bei jedem vervollkommnet. Menschen, die genauso sensibel und fair gegenüber anderen sind wie zu sich selbst, sind auch als Erwachsene vermutlich überall in der Welt in der Minderheit.
De Waals Theorie der Moral hat ein freundliches Antlitz: Der Keim zum Guten im Menschen ist eine alte Geschichte aus dem Tierreich, entstanden aus der Geselligkeit. Konfliktlösung stand am Anfang, Mitgefühl und Fairness kamen später dazu. Vom sozialen zum moralischen
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