Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Tier war es ein kleiner Schritt, oder besser: eine Abfolge von kleinen Schritten. Die Paviane und mehr noch die großen Menschenaffen zu verstehen bedeutet, die Wurzel unserer Moral zu entdecken: in Kooperation und Trösten, Dankbarkeit und Gemeinschaftssinn. Wie eine russische Matroschka schichtet sich de Waals Modell der moralischen Evolution. Im Innersten versteckt ist der emotionale Reflex, ausgelöst durch das Verhalten anderer. Er findet sich nahezu überall bei höheren Tieren. In der Mitte liegt die Empathie, die Fähigkeit, die Emotionen eines anderen einzuschätzen, einschließlich ihrer Gründe. Menschenaffen seien dazu in der Lage und Menschen. Die äußerste Schicht ist die Kunst, in vollem Umfang
die Perspektive eines anderen einzunehmen. Nur sie ist exklusiv menschlich.
Ohne uralte »moralische Empfindungen«, die wir mit Menschenaffen oder Kapuzinern teilen, so de Waal, ist die menschliche Moral schlichtweg unerklärlich. Sie kann nicht vom Himmel gefallen sein. Und diesen Weg der Moral können wir an unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen, zurückverfolgen. Wenn Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans so handeln, als wären sie gut, warum sollen sie es dann nicht auch sein? Menschen und Menschenaffen teilen so vieles miteinander: die Aufmerksamkeit und die Bindung aneinander, die Kooperation und die Hilfe beim Suchen von Nahrung, Sympathie und Empathie, wechselseitige Hilfe, Altruismus und reziproken Altruismus, Konfliktlösungen und Friedensstiftung, Täuschung und Enttäuschung, Verantwortung für die Angehörigen, die Sorge darüber, was andere über einen denken, und Aufmerksamkeit und Respekt vor den Spielregeln der Gemeinschaft.
Vom Mitgefühl über das Gefühl für Unfairness führt der Weg auch zur menschlichen Moral. Sie ist, folgert de Waal, »natürlich, und sie hat eine emotionale Basis, ist nicht nur Sache des Verstandes. Empathie etwa ist zu schnell, um unter der Kontrolle des bewussten Nachdenkens zu stehen. Sehen, dass jemand Schmerzen empfindet, aktiviert dieselben Hirnregionen, wie selbst Schmerzen zu empfinden. Moralische Dilemmata aktivieren Hirnregionen, die älter sind als unsere Art.« 5
Hat de Waal Recht, so steht am Anfang der Entwicklung zur Moral die Intuition. Was fühlt sich sozial »richtig« an und was »falsch«? Je intelligenter Affen sind, umso komplizierter werden dabei die Spielregeln des Zusammenlebens. Und umso schwieriger die Spielregeln des Zusammenlebens sind, umso mehr fordern sie die Intelligenz heraus. Aus moralischen Intuitionen werden unausgesprochene moralische Regeln. De Waals lange Erfahrung mit Menschenaffen, seine Sensibilität und Umsicht lassen ihn die Natur des Menschen in einem recht positiven Licht
erscheinen. Und sie bewahren ihn davor, uns als schlecht getarnte Bestien zu beschreiben und den Psychopathen als Normalfall. Die Moral ist keine freundliche Tünche auf unserer bösen Natur. Denn was sollte uns dieser widernatürlich alberne Anstrich bringen? Der Schwarm von Piranhas, der freiwillig beschließt, Vegetarier zu werden, muss erst noch gefunden werden.
Mein Sohn Oskar hat noch nie etwas von de Waal gelesen. Und die Kapuzineräffchen im Kölner Zoo schmeißen nicht mit Spielmarken und Gurken. Doch spätestens seit er vier wurde, attackiert er mich mit dem Satz: »Das ist nicht fair!« Fast immer bezieht sich sein Gefühl für erlittene Ungerechtigkeit auf mich. Kissenschlachten sind dann unfair, wenn Oskar das Gefühl hat, dass er unter den gegebenen Umständen nicht gewinnen kann. (Fair sind sie, wenn er gewinnt!) Irgendwann zwischen dem dritten und dem vierten Lebensjahr entwickelt sich bei jedem normalen Menschenkind der Geist der Kapuziner.
Der englische Philosoph John Stuart Mill (1806-1873) nannte diesen Impuls das »Gefühl für Gerechtigkeit« (sentiment of justice). Und seine Kehrseite ist das Bedürfnis, diejenigen zu bestrafen, die dieses Gefühl verletzten: »Es wird uns immer Vergnügen und Genugtuung bereiten, wenn jemand, der sich ungerecht verhalten hat, bestraft werden soll.« 6 Und zwar selbst dann, wenn wir selbst gar nicht die Opfer dieser Ungerechtigkeit sind. Für Mill ist das allerdings äußerst erstaunlich. Denn was haben wir eigentlich davon? Beweist dies nicht, dass unser Gefühl für Unfairness ziemlich unbiologisch und unnatürlich ist?
Die Antwort, die Mill sich selbst gibt, würde unter heutigen Umständen wohl kaum noch als unbiologisch betrachtet. Wir verabscheuen Ungerechtigkeit auch
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