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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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unzertrennlich.
     
    Die Moral des Menschen wurzelt in sozialen Intuitionen aus der Zeit unserer Vorfahren. Aus diesem Grund entscheiden wir zumeist schnell und unbewusst, was wir für richtig halten und für falsch. Unsere Gefühle nehmen dabei einen großen Einfuss. Uns überkommt ein Mitgefühl, wir ärgern uns über Unfairness, und wir haben Refexe der Scham und Respekt vor Tabus. So wichtig diese Gefühle sind, so wenig sind wir ihnen hilfos ausgeliefert. Unsere Vernunft versetzt uns in die Lage, unsere sozialen Gefühle zu bewerten, selbst wenn wir davon nicht immer Gebrauch machen. Der Mensch ist das einzige Tier, das seine Absichten (zumindest potentiell) vor sich selbst rechtfertigen muss. Dabei entsprechen unsere moralischen Ansichten nicht zwangsläufig unseren Interessen.

    Wir folgen nicht blind unseren Genen und unseren sozialen Intuitionen, sondern manchmal auch unserer Vernunft. Sie ist etwas anderes als unsere biologischen und persönlichen Interessen. Das Verhältnis von Vernunft und Gefühl ist zwar bei jedem Menschen verschieden, doch prinzipiell sind wir dazu fähig, dass beides in unsere Entscheidungen einfließt. Jedenfalls insofern wir »normale« Erwachsene sind. Doch wie entwickelt sich unsere emotional-rationale Moralfähigkeit? Wie viel Moral besitzen Kleinkinder? Was passiert in der Pubertät? Und wovon hängt es ab, ob wir verantwortungsbewusste Menschen werden oder nicht?
     
    • Natur und Kultur. Wie wir Moral lernen

Natur und Kultur
    Wie wir Moral lernen
    Die Kinder unterschieden genau zwischen dem Guten und dem Bösewicht. Zweimal hatte die rosafarbene runde Holzfigur mit den Kulleraugen versucht, den steilen Berg hinaufzukommen. Und beide Male war sie gescheitert. Da traten die beiden anderen auf den Plan. Das gelbe Dreieck, ebenfalls mit aufgeklebten Augen, kam helfend hinzu und schob die rosafarbene Figur freundlich bis zum Gipfel. Der blaue Würfel, auch er mit Augen, aber schubste die rosafarbene Figur böswillig in den Abgrund.
    Die Kinder, die das Schauspiel beobachtet hatten, durften nun wählen, wonach sie greifen wollten. Wen wollten sie haben? Das gelbe Dreieck oder den blauen Würfel? Das Ergebnis war eindeutig: Fast alle Kinder, Mädchen wie Jungen, griffen nach dem gelben Dreieck.
    Die besondere Pointe der Geschichte: Die Kinder waren noch nicht in der Schule, nicht mal im Kindergarten. Sie saßen auf dem Schoß ihrer Eltern und waren Babys, zwischen sechs und zehn Monate alt. Und trotzdem fühlten sie sich intuitiv zum »Guten« hingezogen. Bereits in einem so frühen Alter, belegt die US-amerikanische Psychologin Kiley Hamlin vom Kinderforschungszentrum der Yale University in New Haven (Connecticut), unterscheiden Kleinkinder zwischen »gut« und »böse«, zwischen dem, was ihr Vertrauen weckt oder was sie abstößt. 1
    Doch Hamlin und ihre Mitarbeiterinnen wollten noch mehr wissen. In einem zweiten Versuch legten sie den rosafarbenen Kreis direkt neben das freundliche Dreieck und ließen die Kinder
dabei zuschauen. Die Babys zeigten dabei keine auffallende Reaktion. Legten die Forscherinnen den rosafarbenen Kreis aber neben den bösen blauen Würfel, so blickten die älteren, zehnmonatigen Babys das merkwürdige Paar aus Gut und Böse auffallend lange an, eine Art »ungläubiges Staunen«. Für Hamlin ein Indiz dafür, dass Babys möglicherweise schon im Alter von zehn Monaten in der Lage sind, ihre Wahrnehmung zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren.
    Bezeichnenderweise funktionierten die Versuche nur, wenn Kreis, Dreieck und Würfel mit aufgeklebten Augen versehen und vermenschlicht wurden. Blieben die Gegenstände in der Wahrnehmung der Babys unbelebt, so maßen sie ihnen auch keine emotionale Bedeutung bei. In Bezug auf »lebendige« Gegenstände aber scheinen bereits Kleinkinder im Alter von sechs bis zehn Monaten Bewertungen vorzunehmen - ein spannendes Anzeichen dafür, wie früh Babys durch das Verhalten der Menschen beeinflusst werden, die mit ihnen intensiv umgehen. Doch während die Bewertungen der Babys im Experiment fast genau gleich ausfielen, wird sich ihre Moral im Laufe der Entwicklung langsam auseinanderentwickeln. Und aus einigen von ihnen werden einmal nette, freundliche und hilfsbereite Menschen, aus anderen vielleicht nicht.
    Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich selbst beim Leben zuschauen kann. Doch der Maßstab für die Bewertung dessen, was er an sich und anderen findet, ist ihm nicht vorgegeben. Er muss ihn lernen.

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