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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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Aber wie? Das gegenwärtig vielleicht am breitesten akzeptierte Modell zur Entwicklungspsychologie liefert der US-Amerikaner Martin Hoffman, Professor für Psychologie an der New York University. 2 In ungezählten Studien überprüfte er über vier Jahrzehnte Theorien, Annahmen und Spekulationen über die moralische Entwicklung von Babys und Kleinkindern, Kindern und Jugendlichen. Ältere Theorien, wie jene des bedeutenden Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget (1896-1980) und seines US-amerikanischen Schülers
Lawrence Kohlberg (1927-1987) von der Harvard University, wurden von Hoffman experimentell überprüft, verfeinert und korrigiert. 3
    Wie Piaget und Kohlberg, so geht auch Hoffman von einer mehrstufigen Entwicklung aus: von der Nachahmung über die Einfühlung zum Mitgefühl. Und vom Mitgefühl über die Selbstkorrektur zu Verantwortung und Gerechtigkeitsvorstellungen.
    Babys lernen von ihren Bezugspersonen durch Beobachtung und Nachahmung. Je stärker die emotionale Bindung ist, umso wichtiger wird zwangsläufig die Bezugsperson, von der sich das Baby etwas abschaut. (Solchermaßen gut informiert, buhlen heute bei modernen Eltern Vater und Mutter oft gleichzeitig um die zentrale Rolle). Mit etwa einem Jahr wird nicht nur das Handeln, sondern auch das Mienenspiel der Bezugspersonen für das Kind lesbar - die erste Voraussetzung für das Mitgefühl. Mimik und Laute werden nun zu Vorlagen, auf die das Kind reagiert. Ein plötzlicher Schreck der Mutter kann auch das Baby erschrecken, selbst wenn die Mutter ihr Kind in diesem Moment nicht auf dem Arm hält. Mit etwa ein bis eineinhalb Jahren verknüpfen Kleinkinder ihre Erfahrungen mit früheren Erlebnissen. Mit dieser Fähigkeit sind sie in der Lage, auch auf die Gefühle anderer zu reagieren. Merken sie, dass jemand anders traurig ist, so werden sie selbst traurig und fangen möglicherweise sogar an zu weinen. Freilich nicht, weil sie sich in den anderen hineinversetzen können. Sondern weil sie die Gefühlsäußerungen des anderen unbewusst mit den eigenen vermischen.
    Erst mit etwa 18 Monaten lernen Kleinkinder ihr eigenes Bewusstsein von dem der anderen zu unterscheiden. Sie entwickeln nun »echtes« Mitgefühl, wenn auch einzig und allein auf der Grundlage der eigenen Erfahrungen - die von Hoffman so genannte »egozentrische Empathie«. Wenn jemand anderes weint, weint das Kleinkind nicht mehr unbedingt mit, sondern versucht den anderen mit Dingen zu trösten, die es selbst trösten würden.
Es holt die Mutter herbei, ein Stofftier oder etwas anderes, das beruhigt. 4
    Je älter das Kleinkind wird, umso flexibler werden seine Verhaltensmuster (und umso unsicherer werden die Experten). Im gleichen Alter, in dem Kinder sich das erste Mal im Spiegel erkennen, werden aus den anderen eigenständige Lebewesen mit einem eigenen Innenleben. Die Gefühle, Wünsche und Gedanken der anderen müssen nicht die eigenen sein, sondern sind möglicherweise verschieden. Die Entwicklung, die nun einsetzt, ist zwiespältig. Einerseits lässt sich vermutlich erst jetzt, im Alter von zwei bis drei Jahren, von »echtem« Mitgefühl sprechen. Andererseits lässt das Mitfühlen im Allgemeinen eher nach. So etwa weist die Psychologin Dale Hay von der Cardiff School of Psychology darauf hin, dass Kinder ihr Mitgefühl nun auswählen und dosieren. 5 Bestimmte Dinge verlieren ihre Traurigkeit oder verändern ihren Wert durch das, was die Eltern darüber sagen. Sätze wie »Das ist nicht schlimm« oder »Du musst deswegen nicht traurig sein« beginnen die Psyche des Kindes zu beeinflussen. Das Einfühlungsvermögen des Kindes wird solchermaßen geschult und darauf gelenkt, was sein Mitgefühl verdient oder eben nicht. Im Alter von etwa vier Jahren sind die meisten Kinder in der Lage, sowohl verschärfende wie mildernde Umstände zu verstehen. So etwa sehen sie bei einer Erklärung durch die Eltern oder durch die Kindergärtnerin ein, dass ein jüngeres Kind ihr Spielzeug nicht absichtlich kaputt gemacht hat.
    Im Alter zwischen vier und sieben Jahren setzt das sein, was man den menschlichen »Sinn für Gerechtigkeit« genannt hat. Kinder weiten nun ihr Gefühl für Unfairness ihnen gegenüber auch auf andere aus. Wenn etwas für mich unfair ist, dann dürften andere dies in Bezug auf sich möglicherweise ähnlich empfinden.
    Der große Vordenker der Fairness-Forschung in Europa ist der Österreicher Ernst Fehr (*1956), Professor für Mikroökonomik und experimentelle

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