Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Gebilde, im Durchschnitt gerade einmal 1,3 Kilo schwer. Es ist schnell, geschmeidig, aufmerksam und lauernd. Was immer ihm vor das Visier kommt, wird beobachtet, studiert, analysiert, bewertet und gespeichert. Hellwach, unermüdlich und unerschöpflich ist es Tag und Nacht aktiv. Dieses Lebewesen ist unser Gehirn.
Ein Fünftel unserer gesamten Nahrungsenergie fließt ins Oberstübchen. Unausgesetzt ist es im Einsatz und schafft sich seine eigene Welt. Denn unser Gehirn ist absolut einmalig. Keines gleicht dem anderen. Was sich in Ihrem Kopf abspielt, spielt sich genauso in keinem anderen Kopf ab. Obwohl Sie und ich über die gleichen Hirnareale verfügen und die gleiche Ausstattung mit Nervenzellen, Verschaltungen und elektrochemischen Übertragungswegen, sind unsere Gehirne verschieden. Gleicht Ihr Gehirn dem Stadtplan von München, so bildet meines die Straßen von Hamburg ab.
Wie kommen solche unterschiedlichen Hochleistungsmaschinen im Alltag zwischen Menschen miteinander klar? Einerseits sind sie einander fremd, in jedem Sinne unzugänglich. Unsere Gehirne sind isoliert und autonom. Andererseits aber sind sie nicht gerne allein. Langfristig ohne Austausch kümmern sie vor sich hin oder werden verrückt. Sie brauchen andere Gehirne zum Leben, benötigen die Mimik anderer Gesichter, den Reiz von Gesten und Worten, die an sie gerichtet sind. Aber wer sind
die anderen für uns? Was lieben wir an ihnen, und was schreckt uns ab? Was hebt unsere Laune, und was bereitet uns Verdruss? Die Evolution hat ein Sortier- und Bewertungssystem für all dies gefunden - bei jedem Menschen ähnlich, aber niemals identisch. Es ist unsere Psyche.
Lebewesen mit einer so komplexen Psyche wie der Mensch verhalten sich auf eine besondere, sehr schwer zu enträtselnde Weise. Sie können lieben und hassen, sind schutzbedürftig und unabhängig, vertrauensselig und skeptisch, aufrichtig und unaufrichtig, offenherzig und verschlossen, ehrgeizig und faul. Kurz gesagt: Sie sind zutiefst widersprüchlich - von Mensch zu Mensch und sehr häufig auch in sich selbst. Und wenn psychisch begabte Wesen eines ganz gewiss nicht sind, dann sind sie keine kühlen Logiker ihres Lebens, keine scharfsinnigen Rechenkünstler ihrer Handlungsfolgen, keine Großmeister ihrer Absichten. Sie sind keine weit vorausplanenden Architekten ihrer sozialen Umwelten. Lebewesen mit einer Psyche überschauen sich nicht völlig selbst.
Das Leben jedes Menschen besteht aus dem, was er haben will, und aus dem, wie er sich selbst empfindet und sieht. Unser Selbstbild und unser Habenwollen tanzen einen furiosen Stepptanz mit uns durch den Tag wie Fred Astaire und Ginger Rogers. Wer führt, und wer wird geführt? Wie viel Geld gibt Ginger Rogers in der Boutique aus, bis Fred Astaire sie hinaustanzt? Nach wie viel Alkoholgenuss bringt er sie nach Hause? An welchem Punkt hindert er sie daran, zu schlecht über vermeintlich gute Freunde zu reden?
Die Trennung von Begehren und Selbstbild ist ein alter Hut der abendländischen Philosophie. Ihren pointiertesten Ausdruck fand sie bei Sigmund Freud in seiner berühmten Unterscheidung vom E s und vom Über-Ich. 1 Bedauerlicherweise allerdings verstellte sich Freud selbst eine genauere Erkenntnis der Psyche, indem er mit Huxley annahm, das Es sei von Natur aus ein mörderisches, tabuloses Raubtier. Die Idee war eben gerade überall in Mode.
Mit der Verteufelung des Begehrens bediente Freud die Idee, dass man seine Affekte unterdrücken müsse. Prekärerweise war es genau das Verhalten, das er in seiner Kritik an der abendländischen Kultur zu Recht überall entlarvte. Die Folge dieses Denkens war ein sehr melancholisches Menschenbild, was angesichts des Zirkelschlusses nicht verwundert. Menschen waren entweder durch ihren Trieb gestraft oder durch dessen Unterdrückung. Psychisch gesunde Menschen waren unter dieser Voraussetzung eigentlich gar nicht mehr möglich. Huxleys Enkel, der Schriftsteller Aldous Huxley, revanchierte sich für diese Weltsicht, indem er die Menschen in seinem Roman Schöne neue Welt (1932) nicht mehr »Oh, Gott!«, sondern »Oh, Freud!« seufzen ließ.
Die Crux daran ist, dass Theologen und Philosophen das Begehren seit jeher verteufeln - so, als ob es per se niedrig, dumm und schlecht sei. Doch mit welchem Recht sehen wir das so? Gewiss, unsere instinkthaften Seiten haben häufig etwas mit ungebändigtem Verlangen, ungedrosselter Wut und ungezähmter Abwehr zu tun. Es gibt sadistische Veranlagungen in
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