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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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vielen Menschen. Es gibt Neid, Gier, Schadenfreude und Rücksichtslosigkeit. Aber unser Begehren verlangt ebenso nach Liebe, Zuneigung, Sorge und dem Gefühl, gebraucht zu werden. Das eine wurzelt offensichtlich ebenso tief in unserer Biologie wie das andere.
    Zu unseren wichtigsten Bedürfnissen gehört es, sich gut zu fühlen. Menschen fühlen sich gerne gut, und zwar köperlich ebenso wie moralisch. Sehr gerne halten sie sich selbst für »die Guten«. Ein kleiner Blick in den Bekanntenkreis genügt. Wer von Ihren Freunden, Bekannten oder Arbeitskollegen hält sich selbst im moralischen Sinne überwiegend für schlecht? Doch eine biologische Theorie, die dieses Bedürfnis nach einer guten Gesinnung erklärte, gibt es nicht. Jedenfalls bekommt keiner von uns dadurch mehr Kinder. Wir sind häufig einfach deshalb nett, weil es sich gut anfühlt, nett zu sein. Nicht immer, aber oft.
    »Der Egoist fühlt sich von fremden und feindlichen Erscheinungen
umgeben, und alle seine Hoffnung ruht auf dem eigenen Wohl«, meinte Arthur Schopenhauer. Der Gute dagegen »lebt in einer Welt befreundeter Erscheinungen: Das Wohl einer jeden derselben ist sein eigenes«. Es ist im Normalfall nicht schwer zu sagen, welche der beiden Lebensformen wir vorziehen. Lieber als von einer feindlichen sind wir von einer freundlichen Mitwelt umgeben. Nicht weil es zwingend unseren praktischen und genetischen Interessen nützt, sondern deshalb, weil es unserer Psyche guttut.
    Die wichtigsten Dinge im Leben, sagt man, kann man nicht kaufen: Freundschaft und Liebe. Und man erwirbt sie noch nicht einmal durch reziproken Altruismus: »Ich liebe dich, also liebst du mich auch!« Mit nüchternem Kalkül und klarem Vorteilsdenken werden wir nicht glücklich, sondern unglücklich.
    Ein Freund von mir - der heute keiner mehr ist - besuchte vor einigen Jahren ein Managerseminar. Der US-amerikanische Trainer erklärte dort seinen Zuhörern, worauf es im Leben ankommen sollte. Er führte ihnen vor, wie viel Zeit wir unnötig verplempern, indem wir nicht zielstrebig genug sind. Wir geben zu viel Geld aus, tun zu viele unnütze Dinge und vergeuden unsere Energie in fruchtlosen sozialen Beziehungen. Stattdessen aber komme es darauf an, sein Leben strategisch klug zu kalkulieren: Was zahlt sich aus und was nicht. Möglicherweise hatte der Trainer viel soziobiologische Literatur gelesen. Jedenfalls riet er den Managern, so zu leben, wie es nach Trivers, Ridley, Wright, Alexander und Frank unserer Natur entspricht.
    Mein Freund, ein lebenslanger Sinnsucher, nahm diese Worte sehr ernst. Wenn ich mit ihm essen gehen wollte, lehnte er ab, weil ihm dies zu teuer sei, obwohl er als Einkäufer eines Automobilkonzerns deutlich mehr Geld verdiente als ich. Sein ohnehin schon überschaubarer Freundeskreis schrumpfte weiter zusammen, und irgendwann traf es auch mich. Er sparte jeden Pfennig und später jeden Cent und gab dieses Geld - unsicher und verzweifelt, wie er war - später für ein völlig unsinniges Projekt
aus. Er war unglücklich und stellte alle seine Grundsätze wieder auf den Kopf. Nun wollte er, mit seinen eigenen Worten, »endlich leben«, berichteten mir gemeinsame Freunde.
    Sein Leben bewusst durchzukalkulieren und »endlich zu leben« ist, so scheint es, ungefähr das Gegenteil voneinander. Doch wenn dies stimmt, so heißt das, dass ein völlig durchkalkuliertes Leben keines ist, das für die allermeisten Menschen großen Wert hat. Das ganze Lebensglück scheint deutlich mehr zu sein als die Summe aufgegangener Kalküle und erwirtschafteter Vorteile.
    Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman (*1934) von der Princeton University liefert dazu ein schönes Beispiel. 2 Die meisten US-Amerikaner geben bei Umfragen an, dass kaum etwas so glücklich macht wie ihre Kinder. Doch wie verträgt sich diese Selbsteinschätzung mit all den schlecht gelaunten Muttis und Papis, die man mit ihren unzufriedenen Kindern im Supermarkt sieht? Oder mit den ewigen Auseinandersetzungen zwischen Eltern und nörgelnden, desinteressierten Teenagern? Kahneman forderte Tausende von Eltern auf, ein »Glückstagebuch« zu führen. Jede Stunde gaben sie ihrem Glücksgefühl im Zusammensein mit ihren Kindern eine Zensur. Das Ergebnis: In der Summe machte der Umgang mit ihren Kindern die durchschnittlichen US-Amerikaner etwa so glücklich wie Einkaufen oder Putzen. Gleichwohl aber beharrten die gleichen Menschen - aus ihrer gefühlten Sicht völlig zu Recht - darauf, dass ihre

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