Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Schwestern, Kinder und Eltern, Freunde und Mitbürger uns helfen können.« 10
Ob unsere Bedürfnisse einen stärker egoistischen oder einen
stärker altruistischen Zug tragen, hängt nicht nur von uns selbst, sondern auch von unserer Kultur ab. Kulturen, die den Egoismus als einen Wert hochhalten wie die Yanomani-Indianer am Amazonas oder die Industriegesellschaften des Westens, hinterlassen andere Spuren in der Psyche als die buddhistisch orientierten Kulturen Asiens oder kooperative Naturvölker wie die Semai in Malaysia. Ein starker Egoismus ist also nicht einfach schlicht unsere Natur, sondern eine Anpassungsleistung an unsere jeweilige Kultur. Oder anders gesagt: Jede Kultur hat die Egoisten, die sie verdient.
Wir leben heute in Deutschland in einer Kultur, die zu den egoistischsten und fürsorglichsten der Menschheitsgeschichte zugleich zählt. Dabei wird der Egoismus vom Einzelnen erwartet, die Fürsorge dagegen vom Staat. Diese Situation wird uns im dritten Teil des Buches noch näher beschäftigen.
Menschen aller Kulturen streben im Normalfall eher nach dem »Guten« als nach dem »Bösen«. Unsere sozialen Instinkte sind sich dabei kulturübergreifend sehr ähnlich - nicht aber die Form, in der Moral in einer Gesellschaft normiert wird. Selbst die abstrakten Prinzipien der Fairness und der Gerechtigkeit müssen antrainiert werden und unterliegen starken kulturellen Einfüssen.
Doch wenn es richtig sein sollte, dass nahezu alle Menschen aller Kulturen nach dem »Guten« streben und die wichtigen Grundwerte der Hilfsbereitschaft, der Gerechtigkeit und der Friedfertigkeit teilen - warum gibt und gab es dann überall in der Welt Kriege? Und warum scheinen wir es nicht zu schaffen, sie überall und dauerhaft zu vermeiden?
• Ausflug nach Shangri-La. Warum Kriege nicht sein müssen
Ausflug nach Shangri-La
Warum Kriege nicht sein müssen
Der Krieg ist darin schlimm, dass er mehr böse Leute macht, als er deren wegnimmt.
Immanuel Kant
Welke Blätter, leichte Vögel, dahingetrieben vom Wind. Die Insel Mindoro im Nordwesten der Philippinen ist halb so groß wie Hessen und beherbergt so viele Einwohner wie München. Der ursprüngliche Regenwald ist nahezu abgeholzt, und die wenigen verbliebenen Reste sind durch Brandrodung bedroht. Es gibt ein paar schöne Strände aus feinem weißem Sand, ein unter Tauchern bekanntes Riff und einen vom Aussterben bedrohten Zwergbüffel. Eigentlich ist Mindoro nicht sehr berühmt.
Für Jürg Helbling (*1954), Professor für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Luzern, ist die Insel ein Hotspot. Denn in den Bergwäldern von Mindoro gibt es den Hauch eines irdischen Paradieses - eines realen Shangri-La friedfertiger Menschen. 1 Was der US-amerikanische Bestsellerautor James Hilton in den 1920er Jahren in den Himalaya verlegte, existiert tatsächlich: eine Kultur der Friedfertigkeit, eine Gesellschaft ohne Mord, Totschlag und Krieg; eine Idylle zwischen grünem Dschungel und Bergen. 2 75 000 Menschen vom Volk der Mangyan leben hier, zurückgezogen im grünen Hochland. Sie sind die ursprüngliche Bevölkerung der Insel. Durch die Spanier und die Piraten von den Küsten ins Inland vertrieben, streifen sie halbnomadisch umher, roden den Wald und bauen Süßkartoffeln an, Wurzelgemüse und Hochlandreis. 3
Was machen die Mangyan so anders als alle anderen Völker?
Ihr Leben kreist um die Familie und die Großfamilie. Männer und Frauen sind weitgehend gleichberechtigt. Man lebt eng aufeinander, redet viel und hilft sich. Die Häuser aus Bambus und Dschungelgras werden gemeinsam errichtet, der Acker gemeinsam bestellt, das Essen, mehrmals am Tag, gemeinsam zubereitet. Ihre Kultur erscheint schlicht, aber sie hat es in sich. Ein Teil der Mangyan schreibt Sanskrit in einer ganz eigenen Variante. 18 Schriftzeichen, drei Vokale und 15 andere Zeichen, werden mit einem kegelförmigen Messer in den Bambus geritzt. Doch ihre Gesetze sind ungeschrieben. Trotz ihrer alten Schrift leben die Mangyan in einer Gesellschaft aus mündlichen Überlieferungen. Die Ältesten, die den Dörfern vorstehen, treffen die wichtigen Entscheidungen der Gemeinschaft, wahren die Sitten und sprechen Recht.
All dies macht die Mangyan zu einer interessanten Kultur, aber nicht zu einer besonderen. Familienclans, gemeinsames Jagen, Arbeiten und Essen gibt es bei vielen indigenen Völkern - das Besondere an den Mangyan ist, was es bei ihnen nicht gibt.
Warum existiert in den
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