Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
bedeutender Mann, auch wenn er heute ein wenig in Vergessenheit geraten ist. Für ihn ging es bei der Moral nicht um übergreifende moralische Prinzipien, sondern schlicht um Verabredungen und Gewohnheiten.
Edward Westermarck (1862-1939) war 29 Jahre alt, als er 1891 mit seiner Doktorarbeit berühmt wurde. Ein Buch über den Ursprung und die Geschichte der menschlichen Ehe. 3 Der junge Wissenschaftler entzauberte einen Mythos: die weit verbreitete Vorstellung, dass frühere menschliche Gesellschaften Matriarchate gewesen und von Frauen regiert worden seien. Außerdem fand er überall in der Kulturgeschichte Hinweise auf die Monogamie. Dafür hatte es also, nach Westermarck, nicht erst der in seinen Augen albernen Ideen des Juden- und des Christentums gebraucht. Das Buch sorgte für Furore und stand für eine vorurteilsfreie und moderne Sicht der Moral. In der Komödie Mensch und Übermensch aus dem Jahr 1903 illustrierte der irische Dramatiker Bernhard Shaw, dass seine Heldin Violet eine moderne Frau sei, mit dem Hinweis, sie habe Westermarck gelesen.
Sein Hauptwerk aber war The Origin and Development of Moral Ideas (Der Ursprung und die Entwicklung moralischer Ideen) aus den Jahren 1906-1908. Der Ehrgeiz des Buches ist gewaltig. Etwa zeitgleich mit Georg Simmel in Berlin begründet Westermarck in Marokko, wo er lange Zeit lebte, die »Moralwissenschaft«: eine Philosophie der Moral auf naturwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Grundlage. Die
radikale Pointe ist leicht formuliert: Moral ist ein biologisches Phänomen, ein Ensemble von widersprüchlichen Instinkten, die von Gesellschaft zu Gesellschaft völlig unterschiedlich normiert werden können. Einen absoluten Haltepunkt gibt es dabei nicht. Kein moralisches »Gesetz« in uns, keine verbindliche Maxime und keine goldene Regel höherer Ordnung macht den Menschen zum Menschen.
Was wir seit Kant unsere Handlungsmaximen nennen, beruhe nicht auf unserer inneren Verfassung. Es sei schlichtweg sozial antrainiert. Und unsere Urteile - in diesem Punkt folgt Westermarck Hume - sind nicht mehr als der Ausdruck unserer Gefühle des Gefallens und des Missfallens. Um es schonungslos zu sagen: Unsere moralischen Prinzipien seien eben keine Konstanten, sondern Variablen. Und einen objektiven Maßstab, um sie zu bewerten, gibt es nicht. Wenn wir dies endlich begreifen, so Westermarck, würde nicht viel verloren gehen. Im Gegenteil würden wir an Verständnis und Großzügigkeit dazugewinnen: »Könnte den Menschen wieder klargemacht werden, dass es keinen moralischen Standard gibt, dann würden sie wahrscheinlich eher toleranter in ihren Urteilen werden und besser darauf hören, was ihr Verstand ihnen eingibt.« 4
Westermarcks Grundsatz, dass die Moral keine Grundsätze braucht, um erfolgreich zu wirken, ist eine zeitlose Provokation. 5 Originell wie sie ist, erinnert sie auf den ersten Blick an den Vorschlag des berühmten Verkehrsplaners Johannes Monderman (1945-2008). Dem pfiffigen Niederländer war aufgefallen, dass die zunehmende Flut an Verkehrsschildern offensichtlich nicht dazu führte, den Verkehr reibungsloser zu gestalten. Je mehr Regulierungen vorgeschrieben sind, so Monderman, umso verantwortungsloser würden die Verkehrsteilnehmer. Aus diesem Grund entwickelte er in den 1980er Jahren sein Konzept des Shared Space. Die Pointe besteht aus zwei Ideen: die Zahl der Verkehrsschilder auf ein Minimum zu beschränken. Und die Straßen so schmal und unübersichtlich zu machen, dass die
Wachsamkeit der Autofahrer zwangsläufig geschärft wird. Wer auf jeden Meter selbst achtgeben muss und sich auf nichts verlassen kann, so Monderman, ist ein besserer Verkehrsteilnehmer.
Was Monderman für die Verkehrsplanung war, war Westermarck für die Moral. Er misstraute den Regeln, Normen und Maximen und setzte stattdessen auf die ganz persönliche Eigenverantwortung. Als er am Vorabend des Zweiten Weltkrieges 1939 im marokkanischen Tenhola starb, konnte er sicher sein, dass er die Anthropologie nachhaltig beeinflusst hatte. Sein berühmter französischer Nachfolger Claude Lévi-Strauss (1908-2009) bedachte den Finnen mit großem Lob. Westermarck habe unser Verständnis des Sozialen und Moralischen erneuert - hin zu einer umfassenden Beschreibung der Menschheit. 6
Hundert Jahre hatten Anthropologen und Völkerkundler inzwischen Zeit, Westermarcks Sicht der Menschen und ihrer Moral zu prüfen. Ungezählte Studien bei indigenen Völkern und Wildbeutergesellschaften haben
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