Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
Vom Netzwerk:
ein enormes Datenmaterial angehäuft. Gibt es moralische Konstanten, die bei allen Völkern gleich sind? Oder haben wir es tatsächlich nur mit Variablen zu tun?
    Nun, ein ganz klares Ergebnis haben wir bis heute nicht. Noch immer gibt es unter Völkerkundlern einen mal mehr, mal minder heftigen Streit über die Frage, was allen Kulturen gemeinsam ist. Im Jahr 1945 veröffentlichte der US-amerikanische Anthropologe George Peter Murdock (1897-1985) von der Yale University eine erste Liste dieser Gemeinsamkeiten. Er nominierte dafür 73 Kandidaten. In Bezug auf unser moralisches Verhalten nannte er »Ethik«, »Etikette«, »Gastfreundschaft«, »Geburtshilfe«, »gesellschaftliche Ordnung«, »Gesetze«, »Inzesttabu«, »nachgeburtliche Versorgung«, »politische Führung«, »Schenken«, »Schwangerschaftsregeln«, »sexuelle Beschränkungen« und »Strafen«. 7
    Heutige Listen fallen selbstverständlich weitaus detaillierter und präziser aus. Aber können sie uns wirklich weiterhelfen? Die
Tatsache, dass jede Kultur eine Vorstellung von Gut und Böse hat, sagt noch nichts über die Qualität des Guten und Bösen aus. Für manche Kultur und Religion ist ein Schwangerschaftsabbruch »böse«, für andere dagegen nicht. Und die Vorstellungen von einem »guten« Nazi im Dritten Reich lassen uns heute moralisch erschauern. Hatte Westermarck also nicht doch Recht?
    Die Wahrheit liegt, wie so oft, gut verteilt auf beiden Seiten. Manche Sitten, Verhaltensmuster und Vorstellungen gibt es in allen Kulturen, andere nicht. Es gibt Witze, die vermutlich überall in der Welt lustig gefunden werden, und andere, die keine fremde Kultur verstehen kann. Überall in der Welt gibt es die Liebe zwischen Mann und Frau. Es gibt Flirten, Werben, Umgarnen und Liebeslieder. Aber die »romantische« Liebe der westlichen Kultur mit ihrem hochkomplizierten Gespinst von Erwartungen ist trotzdem etwas ganz anderes als die Liebe der Yanomani am Amazonas oder der Aborigines in Australien. Wer sich voraussetzungslos auf eine Liebesbeziehung mit einem Menschen aus einer ganz anderen Kultur einlässt, wird sich sehr schnell fragen müssen, ob dieser mit »Liebe« tatsächlich das Gleiche meint wie man selbst. 8
    Warum sollte es in der Moral anders sein? Ein guter Vermittlungsvorschlag zwischen den Fundamentalisten und den Relativisten der Moral stammt von Michael Sandel (*1953), Professor für Philosophie an der Harvard University. Als Protagonist einer philosophischen Fernsehshow ist Sandel heute der Superstar unter den US-amerikanischen Philosophen. Sandels Karriere begann mit einer Kritik an dem wohl berühmtesten angelsächsischen Moralphilosophen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - an John Rawls (1921-2002).
    Als moderner Verfechter der Ethik Kants hatte Rawls versucht zu beweisen, warum es für alle Menschen vernünftig sein soll, einander zu achten. Wie Hobbes konstruiert er dafür einen ausgedachten Naturzustand. Eine Gruppe von Menschen, die »unter dem Schleier der Unwissenheit« lebt, muss versuchen, so gut
wie möglich miteinander klarzukommen. Niemand in der Gemeinschaft weiß, welche Talente in ihm schlummern. Niemand kennt seine Möglichkeiten und Grenzen. Wie Rawls zeigt, einigt man sich schnell auf eine gemeinsame Regel des Umgangs miteinander: dass man niemanden übervorteilt aus Angst, selbst übervorteilt zu werden. Man ist also deshalb gerecht, weil man sich (notgedrungen) bemüht, fair zu sein.
    Als Rawls’ »Theorie der Gerechtigkeit« 1971 erschien, war das Buch eine Sensation. Ein gewaltiger Wurf, überzeugend geschrieben und messerscharf im Detail. Doch Michael Sandel versuchte gleichwohl, die neue Bibel des freundlichen Liberalismus auseinanderzunehmen. Seine Kritik entzündet sich an der Frage: Welchen Sinn macht es eigentlich, sich einen Naturzustand mit Menschen unter dem »Schleier der Unwissenheit« auszudenken, wenn niemand so lebt? Die universellen Spielregeln der Moral, von denen Rawls spricht, sind nur in der Fiktion logisch, nicht in der Realität. Die tatsächliche Moral der Menschen aber, so Sandel, hängt genau von alldem ab, was Rawls unter dem »Schleier der Unwissenheit« versteckt.
    In seinem Buch Liberalism and the Limits of Justice (»Der Liberalismus und die Grenzen der Gerechtigkeit«) aus dem Jahr 1982 geht er mit Rawls hart ins Gericht. Wieso kann Rawls Formulierungen benutzen wie »Es ist ja klar, dass …«, »Es ist offensichtlich …« und so weiter, wenn das, was klar und offensichtlich

Weitere Kostenlose Bücher