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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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ist, nur Menschen klar und offensichtlich sein kann, die gerade nicht »unter dem Schleier der Unwissenheit« leben? Nur Menschen also, die vergleichen können, abschätzen und bewerten? Vergleichen, Abschätzen und Bewerten aber lernen wir nicht unter dem Schleier der Unwissenheit, sondern durch unser Umfeld und unsere Erziehung. Statt unter dem Schleier der Unwissenheit entsteht unser Wissen von Gut und Böse, Richtig und Falsch in unserer Kultur.
    Bezeichnenderweise sind Sandels Lehrmeister, die Philosophen Charles Taylor (*1931) und Alasdair MacIntyre (*1929), glühende
Anhänger der Philosophie des Aristoteles. Und der Kernsatz ihrer Lehre ist unmissverständlich: Man ist das, was man ist, weil man in einem Umfeld lebt, in dem man sich durch permanenten Austausch zu dem macht, wer man ist. Von »sich aus«, als »Mensch«, als »Mitglied der Menschheit« oder als »vernünftiges Wesen« sei man zu nichts verpflichtet.
    Haben Taylor, MacIntyre und Sandel Recht, so entstehen unsere Moralvorstellungen immer in einer Gemeinschaft. Sie sind sprachlich geprägt, ethnisch, kulturell und mehr oder weniger stark religiös. Mit anderen Worten: Sie sind abhängig von Wertvorstellungen, die wir uns nicht im luftleeren Raum aussuchen können, sondern die uns in unserem Umfeld prägen. Und wenn schon nicht direkt, dann eben indirekt. Wir können sie aufnehmen oder nicht, akzeptieren oder bekämpfen - aber wir bleiben immer gefangen in ihrem Kontext. Aus diesem Grund ist das »Gute« nie eine prinzipielle Frage, sondern immer eine Frage der Umstände in einer Gemeinschaft. Mit Westermarck gesagt: »Die Gesellschaft ist der Geburtsort des moralischen Bewusstseins.« 9
    Ein Beispiel: Ich frage mich, ob es richtig ist, meinen Bruder zu verraten, der eine ziemlich gemeine Straftat begangen hat. Ich wäge ab. Aber nicht nur, ob ich dem Gesetz stärker verpflichtet bin oder der Liebe zu meinem Bruder. Ich muss auch in Erwägung ziehen, wie die Gesellschaft die Tat bewertet. Wie hoch ist die Strafe, die er zu erwarten hat? Wie sehen die Gefängnisse aus? In Saudi-Arabien vermutlich anders als in Liechtenstein. Wird ihm die Hand abgehackt, werde ich mich vielleicht anders entscheiden als bei einer Geldstrafe.
    In dieser Frage landen die Relativisten ohne Zweifel einen Punktsieg. Denn wer wollte bestreiten, dass wir uns in der Moral nach den gegebenen Umständen entscheiden. Und dass wir uns im Leben überhaupt keine anderen Werte zu eigen machen können als die, die wir kennen. Andere Kulturen, andere Spielregeln. Aber in zwei Punkten neigen selbst Relativisten wie Taylor,
MacIntyre und Sandel zum Prinzipiellen: In der von Aristoteles übernommenen Vorstellung, dass jeder Mensch in jeder Kultur, wie auch immer sie sei, nach einem erfüllten Leben strebt. Und dass ein erfülltes Leben bei allen Menschen an ein und dieselbe Bedingung gebunden ist: an ein positives Selbstbild.
    Das Streben nach einem erfüllten Leben und nach einem positiven Selbstbild wären die beiden anthropologischen Konstanten der Moral, auf die man sich vielleicht einigen kann. Wenn auch in einer sehr weiten Interpretation. Für einen Bauern im Mittelalter mochte ein erfülltes Leben bereits in der Abwesenheit von Hunger und Krankheit liegen. Und das positive Selbstbild in der Hoffnung, dass Gott zufrieden auf ihn hinunterlächelt. Und Ähnliches dürfte für viele Menschen in der Welt auch heute noch gelten. Doch dass ein erfülltes Leben für die allermeisten Menschen nur dann möglich ist, wenn man sich selbst zumindest halbwegs schätzt, daran, so scheint es, führt tatsächlich kein Weg vorbei.
    Man kann erfüllt leben, ohne viel zu besitzen. Und unerfüllt, obwohl man über so vieles verfügt. Zu einem guten Leben tragen viele Dinge bei, die vermutlich für jede Kultur und Gesellschaft gelten. Für den US-amerikanischen Philosophen Kwame Anthony Appiah (*1954) von der Princeton University sind es sowohl körperliche wie geistige Bedürfnisse »nach Liebe, nach Schönheit, nach Wahrheit, nach Sinn«. Und viele dieser Bedürfnisse »haben mit Bedürfnissen zu tun, die wir mit anderen teilen. Sie machen unser Leben besser, indem sie uns zu besseren Liebes- und Ehepartnern, Brüdern oder Schwestern, zu besseren Freunden oder besseren Bürgern machen oder indem sie unsere Bereitschaft erhöhen, anderen dabei zu helfen, ihre Interessen zu verfolgen und ihre Ziele zu erreichen. Und wir alle haben legitime Ziele, die zu erreichen Geliebte und Ehepartner, Brüder und

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