Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Zweite, bei dem die Begeisterung, an die Front zu ziehen, auf allen Seiten viel geringer gewesen ist. Nicht Aggressionen lösen den Krieg aus; allenfalls löst der Krieg Aggressionen aus.
Krieg ist nicht einfach die Eskalation der biologisch dunklen Seite unseres Charakters. Kein Aggressionstrieb und keine genetische Fitnessstrategie zwingen uns dazu, unsere Nachbarvölker zu überfallen. Das ist die gute Nachricht. Doch warum gibt es dann trotzdem Kriege?
Die Antwort darauf hatte vielleicht tatsächlich schon Thomas Hobbes. In seiner Zürcher Wohnung geht Jürg Helbling zu einem seiner vielen Regale. Er zieht ein Buch hervor, einen prächtigen, in Leder gebundenen Quartband. Eine Erstausgabe von Thomas Hobbes’ Leviathan aus dem Jahr 1651. Der englische Philosoph der Barockzeit hatte den Menschen nicht für schlecht gehalten. Und er hatte die Schuld für die Kriege zwischen den Völkern nicht in einem unbezähmbaren Aggressionstrieb gesehen. Zwar ist Aggression ein von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausgeprägtes Naturprodukt - Krieg dagegen ist es nicht. Krieg ist eine Sache der menschlichen Kultur und deswegen mal häufiger und mal seltener, abhängig von den Umständen. Für Hobbes ist es vor allem ein Umstand, der die Gruppen und Völker in den Krieg treibt: das Fehlen einer Zentralgewalt.
Für Helbling ist dieser Gedanke bis heute plausibel: »Die biologische ›Hardware‹ und die biologisch bedingte Disposition der Menschen zu gewalttätigem Verhalten ermöglichen zwar gewalttätiges, aber auch friedliches Verhalten; es hängt von der sozialen und kulturellen ›Software‹ ab, wie sich Menschen tatsächlich verhalten.« 12 Wenn Völker Kriege führen, dann meist aus zwei Gründen: einmal das von Hobbes angesprochene Fehlen einer
übergeordneten Zentralgewalt, die die Streithähne zur Ordnung ruft. Und zum anderen - in diesem Punkt liegen die Biologen richtig - die Territorialität. Wer in einem bestimmten Gebiet sesshaft ist, kann den Krieg häufig nicht vermeiden. Siedelt ein Volk zum Beispiel an einem Fluss, umgeben von unfruchtbarem Land, so kann es im Streitfall nicht ausweichen.
Der Mangel an Ausweichmöglichkeit und das Fehlen eines Richters und Schlichters sind die Hauptbedingungen von Kriegen unter indigenen Völkern. In unsicheren Situationen heizt sich die Situation wechselseitig auf. Da beide Parteien nicht wissen, was die jeweils andere vorhat, aber mit dem Schlimmsten rechnen, sind der Eskalation mitunter keine Grenzen gesetzt. 13 Dabei ist es sogar vergleichsweise unwichtig, ob die Lebensräume viele oder wenige Ressourcen bieten. Auch hier gibt es keine feste Regel. Man kann nicht sagen, dass es mehr Kriege in fruchtbaren Gegenden gibt als in unfruchtbaren. Völker, die in Gegenden mit sehr knappen Ressourcen leben, wie die Inuits in der Arktis oder die Aborigines in Zentralaustralien, führen gleichwohl keine Kriege.
Seiner Grundstruktur nach ist Krieg nicht besonders sinnvoll, um Gene zu optimieren, um Aggressionen herauszulassen oder um zu diesem hohen Preis Ressourcen zu erobern. Gerade die tapfersten und erfahrensten Krieger, so Helbling, lehnen den Krieg gemeinhin ab. Wichtiger als alle mehr oder weniger kalkulierbaren Vorteile dürfte deshalb etwas ganz anderes sein: Misstrauen, Vorurteil und Angst. Die allermeisten Kriege in der Geschichte der Menschheit haben sich für die Mehrheit der Bevölkerung nicht »gelohnt«, allenfalls für einige profitierende Eliten. Sowohl die irrationalen vorteilslosen Kriege für alle wie die gezielten Raubkriege der Führungseliten sind eng verknüpft mit dem bewussten oder unbewussten Einjagen von Angst. Und all dies lässt den Schluss zu, dass Furcht »generell die wichtigere Emotion im Kontext des Krieges« ist als Aggressivität. 14
Wenn wir uns streiten und bekämpfen, dann eher aus Sorge
um unser Selbstbild oder unser Selbstwertgefühl, als deshalb, weil es uns egal wäre. Mit anderen Worten: Das gestörte Selbstwertgefühl ist eine schlimmere Bedrohung für die Menschheit als jede egoistische Absicht. Denn die Mutter aller Aggressionen ist nicht das Streben nach dem Bösen und auch nicht das rücksichtslose Durchsetzen von Interessen - es ist die Angst um unser Leib und Leben und die gefühlte Bedrohung unseres Selbstwertgefühls.
In diesem Punkt unterscheiden sich primitive Kriege nur unwesentlich von modernen Kriegen: Ohne die Furcht und ohne die Dämonisierung des Gegners ist kaum eine Armee zu mobilisieren. Ein Blick etwa auf den
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