Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
anderen und neigen somit zum Schwarmverhalten. Was aber ist ein natürlicher Menschen-Schwarm? Unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen und Bonobos, leben in Gruppen von etwa fünfzig bis achtzig Tieren. Dabei tauschen sich die Horden
eines Lebensraums ziemlich regelmäßig miteinander aus. Männchen oder Weibchen verlassen im geschlechtsreifen Alter die Gruppe und schließen sich einer anderen an, in der sie dann zeit ihres weiteren Lebens bleiben. War das bei unseren Vorfahren genauso?
Wahrscheinlich ja. Aber wie groß waren die Horden unserer Vorfahren ganz genau? Für Aufsehen sorgte Anfang der 1990er Jahre der Engländer Robin Dunbar (*1947), heute Professor für evolutionäre Psychologie an der University of Oxford. Dunbar lieferte der Evolutionsbiologie, worauf sie gemeinhin am meisten anspringt: eine mathematisch exakte Formel. Könnte es nicht sein, mutmaßte er, dass die Größe des Gehirns - und hier vor allem des Großhirns - in einem direkten Zusammenhang steht mit der Größe des sozialen Umfeldes? Natürlich nicht bei Mücken oder Sardinen, aber zumindest bei Säugetieren? Wenn Schimpansen und Bonobos in Gruppen von fünfzig bis achtzig Tieren leben und ihr Großhirn halb so groß ist wie das von Menschen, bedeute das nicht, dass Menschen in doppelt so großen Gruppen gelebt hätten? Die doppelte Größe unseres Großhirns wäre dann die Folge der in etwa doppelten Komplexität unseres sozialen Lebens. 7
Als zusätzlichen Beweis seiner These bemüht Dunbar heutige Wildbeutergesellschaften, die seiner Ansicht nach in Gruppen von bis zu 150 Mitgliedern leben. 150 - genau diese Zahl nämlich sei die Kapazitätsgrenze für jede echte menschliche Gemeinschaft. Für mehr, so Dunbar, sei unser Gehirn nicht gemacht.
Sympathisch an Dunbars Theorie ist, dass sie die Größe unserer Gehirne - ähnlich wie Harry Jerison und Terrence Deacon (vgl. Die Evolution der Absicht. Warum wir uns verstehen) - aus den sozialen Ansprüchen an unsere Vorfahren erklärt. Und könnte es nicht tatsächlich sein, dass die Grenze für unsere soziale Reichweite irgendwo in der Nähe von 150 liegt?
Aber man sollte die »Dunbar-Zahl« gleichwohl nicht bierernst nehmen. Die Erfahrung lehrt uns, dass die Reichweite des sozialen
Mitgefühls bei Menschen sehr verschieden ist. Der eine hat ein Herz für viele, der andere nur für sehr wenige. Und manche Menschen interessieren sich für fast alles, und andere für fast nichts. Auch biologisch ist die These von dem direkten, gleichsam mathematischen Verhältnis von Großhirn und sozialem Umfeld durchaus fragwürdig. Orang-Utans und Gibbons zum Beispiel gehören als Menschenaffen zu unseren näheren Verwandten. Ihre Großhirne erreichen mindestens ein Drittel von unserem. Ginge es nach Dunbar, so müssten sie in Gruppen von bis zu fünfzig Tieren leben. Stattdessen aber ziehen Orang-Utans einzelgängerisch oder in Kleingruppen von wenigen Müttern mit Kindern durch den Wald. Und Gibbons leben als geschlechtliche Paare getrennt von allen anderen Artgenossen. Die etwas weniger schlauen Paviane hingegen bilden große Gruppen mit bis zu 250 Mitgliedern.
Mit gleichem Recht, wie Dunbar die Zahl unserer Gruppenmitglieder gegenüber Schimpansen und Bonobos verdoppelt, könnte man sie übrigens auch halbieren. Denn je komplizierter unsere Gehirne wurden, umso leichter waren sie auch zu überfordern. Die enormen Ansprüche an unser Sozialverhalten kennen im Tierreich nicht ihresgleichen. Mit gleichem Recht wie Dunbar könnte man auch sagen, dass uns bereits dreißig Gefährten in unserem engeren Dunstkreis sozial völlig in Anspruch nehmen.
Auch wenn man sich über die exakte Zahl der Hordenmitglieder in unserem sozialen Nahbereich streiten kann, an der Tatsache, dass wir Hordentiere sind, besteht kein Zweifel. Auch Menschen verlassen sich in vielen Entscheidungen darauf, was andere tun. Manchmal, so scheint es, gerät uns dieser Instinkt durchaus zum Vorteil. Die sogenannte »Weisheit der Menge« ist ein Boom-Thema in Zeitungen und Zeitschriften. Wem etwa fiele nicht auf, dass der Telefonjoker (65 Prozent richtige Antworten) bei Günter Jauchs »Wer wird Millionär?« alles andere als ein Experte ist im Vergleich zum Publikumsjoker (zu 91 Prozent richtig)? 8
Die Crux an der Schwarmintelligenz allerdings ist, dass sie durchaus nicht immer weiser ist als das Wissen der Experten. Denn die Menge speichert nicht nur Wissen, sondern auch Legenden, Missverständnisse und Vorurteile. Mit wie vielen
Weitere Kostenlose Bücher