Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Stichen kann eine Hornisse ein Pferd töten? Mit drei, fünf, sieben oder zehn? Umfragen dieser Art kämen sicher zu dem Ergebnis fünf oder sieben. Tatsächlich aber sind Hornissen keinen Deut gefährlicher als Wespen. Und nicht einmal hundert Stiche reichen dafür, ein Pferd zu vergiften. Mit welch unglaublicher Beharrlichkeit speichert das kollektive Wissen der Völker Vorurteile gegen andere Nationen? Jahrhundertelang hasste die Weisheit des Schwarms in Deutschland die Franzosen. Und die Männerschwärme der westlichen Kultur waren sich ohne größeren Austausch zwei Jahrtausende einig, dass Frauen kein Wahlrecht zusteht.
In der Tat hat die nahezu unmerkliche Weitergabe von Urteilen und Vorurteilen durchaus etwas von Schwarmverhalten. Wenn fast jeder sich an den Meinungen seines nahen Umfeldes orientiert, entstehen Meinungsströme. Und was richtig ist oder falsch, entscheidet der Schwarm. Die Parallelen sind so naheliegend, dass es durchaus sinnvoll erscheint, dafür Begriffe wie »soziales Schwarmverhalten« oder auch »moralisches Schwarmverhalten« zu prägen. Die drei Kriterien des Schwarms, die der IT-Experte Craig Reynolds (*1953) im Jahr 1986 aufstellte und die von der Forschung allgemein akzeptiert werden, gelten jedenfalls auch im Sozialen: Bewege dich in Richtung des Mittelpunkts derer, die du in deinem Umfeld siehst! Bewege dich weg, sobald dir jemand zu nahe kommt! Bewege dich in etwa in dieselbe Richtung wie deine Nachbarn! 9
Ein großer Teil unseres körperlichen, unseres sozialen und unseres moralischen Entscheidens ist uns im Alltag meist gar nicht bewusst. Unbewusst erkennen wir mit Hilfe unserer Spiegelneuronen die Muster im Verhalten der anderen. Wenn Sie sich in einer Fußgängerzone am Samstag durch eine Menschenmenge
schlängeln, ist es viel besser, dass Sie nicht allzu lange darüber nachdenken, ob Sie rechts oder links ausweichen. Wenn Sie es nicht tun, wird Ihr Schwarminstinkt es schon wissen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gehen Sie rechts vorbei. Und nichts anderes wird auch von Ihnen erwartet.
Kants berühmter Satz: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«, gilt nicht für jede Lebenssituation. Sie könnten, wenn Sie es jederzeit täten, an der Welt irre werden und nicht mehr verstanden werden. Und auch Goethes Weisheit: »Ursprünglich eigenen Sinn, lass dir nicht rauben / Woran die Menge glaubt, ist leicht zu glauben!«, hilft uns nicht immer weiter. Zum einen haben wir aus guten Gründen nicht immer einen eigenen, von der Menge verschiedenen Sinn. Und zum anderen scheint Goethes Ermahnung ja nur deshalb sinnvoll zu sein, weil wir von unserem eigenen Sinn im Alltag normalerweise eben nicht unausgesetzt Gebrauch machen.
Dass wir uns auch in unseren Urteilen und Überzeugungen durch andere leiten lassen, ist ebenfalls nicht erstaunlich. Unser soziales Terrain ist ein unübersichtliches Gelände. So bietet es sich häufiger an, dem Schwarm zu folgen, als sich »seines eigenen Verstandes zu bedienen«. Die Crux beginnt schon damit, dass wir nicht einmal unseren eigenen Verstand überschauen. In den Worten von Martin Seel gesagt: »Wir kennen das Gefüge unserer Überzeugungen so wenig wie alle Winkel einer größeren Stadt - mögen wir diese noch so gut kennen. Genau genommen kennen wir den Lageplan unserer Überzeugungen noch sehr viel weniger als irgendeine Lage in der weiteren Welt.« 10 Denn »›Geh deine Überzeugungen durch!‹ - so eine Bitte ließe uns ratlos zurück. Wo anfangen?, wo aufhören?, welcher Ordnung folgen? Überzeugungen haben weder ein bleibendes Zentrum noch eine freistehende Peripherie.« 11
In solcher Lage kommen wir um Beeinflussungen von außen gar nicht herum. Natürlich steht es uns in gewissem Maße frei, uns Einflüssen zu entziehen. Nicht jeder Mensch in der Straßenbahn
lächelt zurück, nur weil wir ihn anlächeln. Und wir können beschließen, Vegetarier zu werden, auch wenn niemand in unserem Umfeld dies vorlebt oder sich anschließt. Doch wer sich völlig und jederzeit gegen die intuitive oder bewusste Beeinflussung aus seinem Umfeld wehrt, wird kein moralischer Held, sondern ein sozialer Autist! Neueren Forschungen zufolge laufen wir sogar Gefahr, unsere Fähigkeit, die Empfindungen anderer zu spiegeln, zu verlieren. Und zwar dann, wenn wir dauerhaft darauf verzichten, sie zu nutzen. Was für unsere Muskeln gilt, davon machen Nervenzellen wie Spiegelneuronen offensichtlich keine Ausnahme: »Use it or lose
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