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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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monatelang an bestimmte Futterplätze und speichern Schwimmrouten von mehreren tausend Kilometern. Instinktiv meiden sie Gefahren und richten ihr Schwarmverhalten danach aus. 3
    Schwarmbildung bringt viele Vorteile. Sie hilft bei der Nahrungssuche, erhöht die Wachsamkeit und bietet Schutz vor möglichen Fressfeinden. Doch auch Schwarmverhalten will eingeübt sein. Ein Schwarm von Guppys, der schon lange zusammen ist, findet leichter Futter als eine Gruppe von neu zusammengesetzten Tieren. Die Art und Weise, wie sich die Tiere aneinander ausrichten, Signale aufnehmen und weitergeben, ist allerdings erst in Umrissen bekannt. Mithilfe eines kleinen Roboterfisches konnte Krause zeigen, dass ein beherzter Führerfisch ausreicht,
um eine Gruppe von Stichlingen hinter sich herzuziehen. Jeder Richtungswechsel des Führers wurde von den anderen nahezu zwanghaft kopiert.
    Was dabei in den Fischen vorgeht, ist bis heute unbekannt. Nach welchen versteckten Signalen orientieren sie sich? Einer von Krauses Berliner Kollegen hat seinen Karpfen Chips eingepflanzt, um aus ihrer Physiologie zu lesen, wie es um ihr Wohlbefinden steht. Sehr viel ist das noch nicht. »Ich wüsste gerne, wie sich die Fische während meiner Experimente fühlen«, sagt Krause und klopft gegen ein Aquarium. Wie ein einziger empfindlicher Organismus zuckt der Schwarm der Plötzen zusammen. Was macht einzelne Fische kecker und wagemutiger als andere? Ist es nur ihr erhöhter Stoffwechsel? Für Krause sind seine Versuchsfische »Persönlichkeiten« von unterschiedlichem Temperament. Schwarmverhalten und individuelle Persönlichkeit schließen sich nicht aus. Gerade das macht die Beobachtungen an Schwärmen von Fischen und Vögeln bis zu einem gewissen Grad übertragbar auf den Menschen. Man muss nicht primitiv sein wie eine Mücke, um sich am Schwarm zu orientieren.
    Der jüdisch-deutsche Hirnforscher Hugo Karl Liepmann (1863-1925) machte dazu Anfang des 20. Jahrhunderts eine bahnbrechende Entdeckung. Sein Forschungsthema in Breslau und an der Berliner Charité war das Planen von Handlungen im Gehirn. Mit Verwunderung stellte er fest, dass Menschen mit Hirnschäden im Scheitellappen und im Stirnhirn nicht mehr in der Lage dazu waren, die einfachsten Bewegungen zu imitieren. Das war umso erstaunlicher, als für solche einfachen Gesten nach Ansicht damaliger Hirnforscher keine höheren Hirnfunktionen nötig waren. Doch Liepmann entdeckte, dass wir auch in unseren bewussten Hirnregionen unbewusste Prozesse vollziehen. Mit ihrer Hilfe imitieren wir die Mimik, die Gesten, die Töne, Laute und Worte der anderen, ohne dass wir es merken. 4
    Wenn wir jemand anderem über die rote Ampel folgen, ohne uns dessen tatsächlich bewusst zu sein, so greifen ganz offensichtlich
solche unbewussten Imitationen. Was einem Säugling dazu dient, das Lächeln seiner Mutter aufzunehmen und zu erwidern, einem Kleinkind dabei hilft, Worte nachzusprechen, zieht uns auch im Sog des Schwarms. Seit Anfang der 1990er Jahre sprechen Wissenschaftler in diesem Zusammenhang von Spiegelneuronen. 1992 entdeckte eine Gruppe von Hirnforschern um Giacomo Rizzolatti an der Universität Parma solche spektakulären Nervenzellen im Gehirn. Ein Affe, der nach einer Nuss griff, zeigte die genau gleiche Hirnaktivität, als wenn er sich nur vorstellte, die Nuss zu ergreifen. In beiden Fällen feuerten dieselben Neuronen. 5
    Wenn Sie sich bislang gefragt haben sollten, warum Gähnen ansteckend wirkt oder warum wir lächeln, wenn jemand anderes uns anlächelt, so scheint dies das Werk unserer Spiegelneuronen zu sein. Es sind jene Nervenzellen, die uns im Bruchteil einer Sekunde dazu bringen, emotionale Signale eines anderen aufzunehmen und dabei mitunter auch zu übernehmen. Als scharfe Beobachter dechiffrieren sie die Körpersprache unseres Gegenübers und sorgen dafür, dass dieser uns mit seinen Lauten und Gesten »ansteckt«.
    Die Existenz von Spiegelneuronen bei anderen Tierarten als bei Affen und Menschen ist freilich wenig erforscht. Sollten Fische über Spiegelneuronen verfügen, so müssen sich diese zudem in anderen Gehirnregionen befinden als bei Menschen. Obwohl beides Wirbeltiergehirne sind, unterscheiden sie sich gewaltig. Ein weiterer Kandidat für Imitationsreflexe könnte überdies das Kleinhirn sein, das hierfür offensichtlich auch beim Menschen eine Rolle spielt. 6
    Ob Spiegelneuronen oder Reflexe aus dem Kleinhirn - in jedem Fall imitieren Menschen häufig unbewusst das Verhalten von

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