Die Kunst, nicht abzustumpfen
werden, die den Organismus zu plötzlichen Kampf- oder Flucht-Reaktionen befähigen.
In der übermotorisierten Welt von heute sind große Teile der Bevölkerung mehr oder weniger permanent diesen Alarmreaktionen ausgeliefert: etwa wenn draußen ein Motorrad vorbeidonnert, ein Auto mit wummernden Bässen vorüberdröhnt, ein Düsenflugzeug über unsere Köpfe rast usw. Jedes Mal wird in den Gehirnregionen, die für Gefühle zuständig sind, Alarm ausgelöst, der sogleich von den kognitiven Gehirnregionen als Fehlalarm interpretiert und sozusagen »zurückgenommen« wird (»das ist ja nur ein Motorrad«). Dies hat zur Folge, dass wir darin eingeübt sind, Alarmsignale zu übergehen: wir stumpfen emotional ab.
Insofern ist Lärm nicht nur eines der größten Um weltprobleme, sondern zugleich eine gravierende Form von Innen welt-Zerstörung: Weil sie das Sinnesorgan betäubt, das für unser Gefühlsleben zuständig ist; genau das Organ, das auch für die Verarbeitung unserer Emotionen über die Welt von hervorragender Bedeutung ist (Marks 1996).
Ein Ausweg aus dieser problematischen Entwicklung besteht meines Erachtens darin, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie massiv unser Gehör-Sinn manipuliert, überstrapaziert und abgestumpft wird. Notwendig ist es, Lärm zu bekämpfen und Oasen der Stille zu schaffen, um das Hören wieder zu kultivieren (Berendt 2007). Denn nur wer hören kann, kann auch fühlen.
5. Vom Umgang mit den Emotionen über die Welt
Die Überreizung und Beschädigung des Hör-Sinnes trägt mit dazu bei, dass unsere Beschäftigung mit den Nachrichten über die Welt vorwiegend in kognitiver Weise geschieht, während deren emotionale Bedeutung weitgehend verdrängt wird. Das Lesen der Zeitung, das Betrachten von Nachrichten im Fernsehen oder Internet: Dies vermag die Menschen (abgesehen von extrem schockierenden Ereignissen wie z. B. in Fukushima im März 2011) kaum mehr zu bewegen. Nachrichten sind bloße Informationen, aber nur selten Wissen, geschweige denn Weisheit. Die Betrachter machen dicht, schalten ab: »Mit elektronisch getakteter Atemlosigkeit nehmen wir die Weltfinanzkrise zur Kenntnis, einstürzende Euro-Länder, arabische Revolutionen, japanische Katastrophen – unsere Aufnahmefähigkeit ist bis zum Äußersten gedehnt. Und wir merken: Wir wissen fast nichts.« (Gaschke 2011, 1). Die Folgen sind Ohnmacht, Überdruss und Gleichgültigkeit.
Was ist zu tun, um dies zu verändern? Diese Frage geht jeden Menschen an; sie berührt diejenigen in doppelter Weise, die nicht nur auf den eigenen Umgang mit Nachrichten achten müssen, sondern darüber hinaus auch dafür verantwortlich sind, wie andere damit umgehen: Eltern, die ihre Kinder auf das Leben in einer bedrohten Welt vorbereiten; sowie Lehrer/- innen, insofern es zu ihrer Aufgabe gehört, die Schüler über vergangene, gegenwärtige und drohende Katastrophen zu unterrichten (dies betrifft vor allem die Fächer Geschichte, Gemeinschaftskunde, Erdkunde, Deutsch, Religion bzw. Ethik).
Darüber hinaus geht diese Frage alle Menschen an, die sich für Frieden, Gerechtigkeit oder Naturbewahrung engagieren, sei es frei- oder hauptberuflich (z. B. in einer Bürgerinitiative oder Menschenrechts-Organisation). Auch sie arbeiten in gewissem Sinne pädagogisch, wenn sie Mitbürger/-innen für ein
bestimmtes Anliegen gewinnen möchten (z. B. Unterschriften für ein Bürgerbegehren sammeln). Diese Personengruppe ist gemeint, wenn ich im weiteren Verlauf dieses Buches zuweilen von »Aktivisten« oder »Engagierten« spreche.
All diese Personen sind mit der Frage konfrontiert: Wie sag ich es meinem Kind bzw. Schüler bzw. Gesprächspartner? Wie kann ich ein »unangenehmes« Thema ansprechen, ohne beim Gegenüber Pessimismus oder aggressive Abwehr zu verstärken? Wie kann ich sie für ein Thema interessieren, das zunächst keinen »Fun« verspricht und über den »Tellerrand« ihrer unmittelbaren eigenen Interessen hinauszugehen scheint, wie etwa für das Leiden von Mitmenschen in anderen Zeiten oder Ländern, für die Ausrottung anderer Gattungen oder für die radioaktive Verseuchung der Erde für die kommenden Jahrtausende?
Eine pädagogische Strategie, dieses Problem zu lösen, ist verschiedentlich im Schulunterricht und in Kampagnen für Frieden, Gerechtigkeit oder Naturbewahrung zu beobachten: Es wird versucht, die Schüler bzw. Mitmenschen mit möglichst aufrüttelnden Informationen oder Bildern zu konfrontieren. Gewiss ist es hilfreich,
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