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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Marks
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wir eine weitere Militäreinrichtung. Wir sind jedoch viel zu erschöpft, um uns noch lange zu beraten und einen Konsens über eine mögliche Aktion zu suchen. Ohnehin ist es gegen 18 Uhr: um diese Zeit finden in vielen Städten Schweigestunden für den Frieden statt.

    Daher setzen wir uns einfach in einem Kreis auf die Zufahrt vor den Schlagbaum – die zahlreichen Polizisten, Wachleute und Soldaten stehen daneben und schauen: Da sitzen 35 Leute auf der Straße und meditieren. Wir haben keinen Plan, was wir nach dieser Stunde machen würden. Um 19 Uhr stehen wir auf. Dann, plötzlich, wissen wir, was zu tun ist. Wir blinzeln uns zu und haben in zwei, drei Sekunden ohne Worte einen Konsens. Wir entfalten unser langes Transparent mit der Aufschrift ›atomwaffenfreies Europa‹, wir singen das Lied aus der britischen Friedensbewegung ›take those toys …‹, wir singen und tanzen in Schlangenlinien über die Straße, singend und tanzend kriechen unter dem Schlagbaum hindurch, singend und tanzend in das Militärgelände …
    Und all die Polizisten, Wachleute und Soldaten? Sie hielten uns nicht auf, sie verhafteten uns nicht, sie standen nur da und schauten …«
     
    Verblüffung, Entwaffnung, Bezauberung oder Anziehung kann sich ereignen, wenn Angehörige verschiedener Bewusstseins-Strukturen sich begegnen. Vielleicht erklärt dies auch die großen Sympathien, die Greenpeace durch ihre Aktionen gewinnen konnten? Oder die Achtung, die buddhistische Mönche wie z. B. Nagahama in der oben geschilderten Aktion bei Passanten und Polizisten zu erwecken vermag? Auch die Erfolge der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung mit den Aktionen von Irene Morgan, Rosa Parks, Martin Luther King jr. und ihren Mitstreiter/-innen? 9 Oder die Fassungslosigkeit und erstaunliche Höflichkeit, mit der Karl Fritsch, der brutale SS-Schutzhaftlagerführer in Auschwitz, auf Pater Kolbe reagierte?
    Ein weiteres Beispiel ist die unglaubliche Wirkung dieses kleinen, so zerbrechlich wirkenden Mahatma Gandhi. Diese beruht weniger auf der »Technik« seiner Protestmethode,
sondern auf seiner gütigen Haltung und seinem unbedingten Glauben an die Würde eines jeden Menschen. Jawaharlal Nehru schrieb über ihn: »Sein Lächeln ist entzückend, sein Gelächter ansteckend, und er strahlt Frohsinn aus. Etwas Kindliches liegt in seinem Wesen, das voller Reiz ist. Wenn er einen Raum betritt, bringt er einen Hauch frischer Luft mit sich, der die Atmosphäre aufhellt.« (zit. in Grabner, 2002, 184)
    Keiner seiner Gesprächspartner konnte dem Zauber von Gandhis Persönlichkeit widerstehen. Sein Einfluss auf Menschen bestand nach Ansicht seines Sekretärs Pyarelal Nayyar darin, dass er bei einem Konflikt immer versuchte, »seinen Gegner in einen Bruder, einen Mitsuchenden nach der Wahrheit« (zit. in Grabner 2002, 185) zu verwandeln.
    Von einem weiteren Beispiel berichtet die US-amerikanische Friedensarbeiterin Edith E.: »Washington, D.C. an Pfingsten 1983. Ich war allein angereist und zu Gast bei den Benediktinerinnen. Als am nächsten Tag die Aktion »Frauen gegen atomare Aufrüstung« begann, hatte ich den tiefen Wunsch, nicht als eine der ersten verhaftet zu werden, weil ich die ganze Geschichte miterleben wollte. Wir waren 242 Leute und wir sangen und beteten und hielten Blumen und tanzten. Die Polizei verhaftete uns in Zehnergruppen. Die Menge wurde kleiner und immer kleiner, wir sangen immer weiter, es war wunderbar! Schließlich waren wir nur noch zu dritt auf dem Boden. Eine Frau stimmte das Kirchenlied ›Für die Schönheit der Erde, für die Glorie der Himmel …‹ an.
    Bei der ersten Zeile traten drei Polizisten vor, und die anderen beiden Frauen wurden mitgenommen. Ich stand alleine und sang das Lied zu Ende, während mein Polizist höflich einen Meter daneben stand und respektvoll wartete. Er war schwarz. Ich hatte das Gefühl, dass er dasselbe Kirchenlied am Vortag in seiner Kirche gesungen hatte und dass er schweigend mit mir sang. Als ich fertig war, trat er vor, reichte mir seinen Arm, als ob er mich zum Tanz führen wollte, und wir gingen ruhig zum Tisch, wo meine Fingerabdrücke genommen wurden.«

10. »tun«
    Das »Tun« steht im Mittelpunkt des zweiten Teils dieses Buches – ebenso wichtig ist jedoch das »Lassen«. Denn gerade Menschen, die sich für Frieden, Gerechtigkeit und Naturbewahrung engagieren, sind in besonderer Weise in Gefahr, auszubrennen (und als Konsequenz vielleicht in Pessimismus oder Zynismus zu verfallen).

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