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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Marks
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unvorhersagbar verhalten, wie z. B. Wetter, Erosionen, Turbulenzen oder Verkehrsstaus. Dabei wurde beobachtet, dass sich schon geringfügig kleine Veränderungen der Anfangsbedingungen zu einem völlig veränderten Verhalten des gesamten Systems hochschaukeln können.
    So errechnete der US- amerikanische Meteorologe Edward Lorenz im Jahr 1963 mit Hilfe eines Computers eine langfristige Wettervorhersage. Dazu gab er die verschiedenen relevanten Werte ein, darunter, bis auf sechs Dezimalstellen genau, einen Wert 0,506127. Bei einer Überprüfung der Berechnung gab er nur noch die ersten drei Dezimalstellen dieser Zahl ein (0,506), also einen Wert, der nur um etwas mehr als ein Zehntausendstel von der ersten Berechnung abwich. Zu seiner großen Überraschung unterschieden sich die beiden Wetterprognosen jedoch sehr stark voneinander und zeigten am Ende keine Gemeinsamkeit mehr.
    Diese Entdeckung wurde als Schmetterlingseffekt popularisiert. Der Begriff geht zurück auf den Titel eines Vortrags, den
Lorenz 1972 auf einer wissenschaftlichen Tagung hielt: »Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?« Festzuhalten ist, dass kleine Ursachen unter Umständen große Wirkungen haben können (die Betonung liegt auf »können«, denn gewiss können kleine Ursachen häufig auch nur kleine Wirkungen auslösen).
    Die mathematische Brille
    Zum Kern der mentalen Bewusstseins-Struktur gehört auch ein mathematisches Denken, welches wiederum auf dem »Procedere des Gleichsetzens« (Gebser 1988, 479) basiert. Denn um z. B. zwei verschiedene Gegenstände miteinander verrechnen zu können (wie etwa 1 + 2 = 3), müssen diese beiden zuerst gleichgesetzt werden. Beispielsweise können ein Apfel und zwei Orangen erst dann aufaddiert werden, wenn wir ihnen ihre spezifischen Qualitäten als Apfel bzw. Orangen nehmen und sie zu 1 + 2 = 3 Stück Obst abstrahieren.
    Diese Denke hat durchaus ihre Berechtigung für bestimmte Bereiche der Wirklichkeit, auch z. B. für die Auszählung von Wählerstimmen. Ein weiteres Beispiel ist die Wahrnehmung, Berichterstattung und Bewertung von Protestkundgebungen. Im Nachhinein berichten die Medien z. B. von »100.000 Teilnehmern«. Der Leser dieser Meldung mag sich denken: »Wenn ich auch daran teilgenommen hätte, dann wären wir 100.001 Teilnehmer gewesen.« Tatsächlich aber hätte ein weiterer Teilnehmer vermutlich null Konsequenz für die mediale Berichterstattung und für die Wirkung der Aktion in der Öffentlichkeit gehabt. In den Medien wäre dennoch nur von 100.000 Teilnehmern berichtet worden.
    Beide Beispiele vermitteln wenig Hoffnung. Sie entmutigen, weil der Einzelne jeweils auf eine unbedeutende Ziffer reduziert wird. So kann Hoffnungslosigkeit leicht dadurch entstehen, dass gesellschaftliches Handeln durch die »Brille« mathematischen
Denkens betrachtet werden. Dies ist jedoch nur bedingt zulässig, denn gesellschaftliche Veränderungen funktionieren in vielerlei Hinsicht nicht nach den Regeln einfacher Mathematik. Auch wenn das sozialwissenschaftliche Wissen über gesellschaftlichen Wandel noch bruchstückhaft sein mag (Kern 2008, 9; Raschke 1988, 409), so ist doch gewiss, dass er keine Mehrheit von mindestens 50,1 Prozent der Bevölkerung voraussetzt. Vielmehr reichen schon wenige Personen aus, so Len Fisher (2010, 46f.), um das Verhalten einer großen Gruppe zu beeinflussen. Dazu einige Beispiele:
    Der Sozialpsychologe Stanley Milgram ließ im Jahr 1969 seine Mitarbeiter von der Straße aus zu einem Fenster im sechsten Stock eines Gebäudes hinaufstarren. Solange nur eine Person zum Fenster hochblickte, blieben immerhin 40 Prozent der Passanten stehen und starrten mit. Deren Anteil stieg auf 60 bzw. 90 Prozent, als zwei bzw. fünf Mitarbeiter zum Fenster hinaufsahen.
    Andere Untersuchungen kommen zum Ergebnis, dass schon fünf Prozent der Teilnehmer ausreichen können, um eine Gruppe von 200 Personen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu beeinflussen. In Computermodellen wurde sogar gezeigt, »dass der Anteil der Anführer umso kleiner sein kann, je größer die Gruppe ist.« (Fisher 2010, 46) Festzuhalten ist, dass schon kleine Gruppen viel Veränderung bewirken können. Margaret Mead sagte 1969: »Zweifeln Sie nie daran, dass eine kleine Gruppe nachdenklicher und engagierter Bürger die Welt verändern kann. In der Tat: das ist das einzige, was sie je verändert hat.« (zit. in: Perlas 2006).
    Veränderung vermag schon jede/r Einzelne zu bewirken.

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