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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Marks
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Dies möchte ich illustrieren mit einem Bild aus der hinduistischen Philosophie, das die Komplexität des »Systems Menschheit« veranschaulicht: Der Himmel des altindischen Gottes Indra besteht aus einem Netz durchsichtiger Perlen, die sich gegenseitig spiegeln. So erscheinen in jeder Perle die Spiegelbilder aller anderen. In ähnlicher Weise können wir uns jeden
Menschen als eine Perle und die Menschheit als ein Netzwerk sich gegenseitig spiegelnder Perlen vorstellen.
    Dieses Bild illustriert, dass kein Mensch »außerhalb« der Menschheit steht. Jeder ist Teil des Ganzen, unabhängig davon, ob er oder sie diese Verantwortung akzeptiert oder nicht. Niemand ist »nicht-beteiligt«. Auch wer sich nicht politisch in die Gesellschaft einbringt, leistet einen aktiven Beitrag. In diesem Fall dazu, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind. Positiv gewendet: Wenn nur ein einzelner Mensch sich verändert, werden damit auch alle anderen verändert; so wie alles, der ganze Himmel von Perlen, verändert wird, wenn eine einzige Perle sich verändert.
     
    Auf welche Weise sich politische Überzeugungen oder neue Ideen in einer Gesellschaft verbreiten, dies ist – auch aufgrund der großen Komplexität – noch kaum verstanden. Erst in den letzten Jahren wird es mit Hilfe moderner Computer möglich, die erforderlichen riesigen Datenmengen überhaupt zu erfassen und zu beginnen, sie zu erschließen. Einer dieser neuen Generation von Sozialforschern, Nicholas Christakis, kommt zum Ergebnis, dass sich Ideen durch »soziale Ansteckung« ausbreiten, die durch soziale Netzwerke verstärkt werden können. Oft ist für das Überspringen von Mensch zu Mensch nicht einmal ein direkter Kontakt nötig (Dworschak 2008, 150).
    Mit dieser These werden tradierte Vorstellungen von gesellschaftlichem Wandel obsolet. Etwa die Vorstellung, wonach Menschen, die verändernd wirken, besonders erkennbar sein müssten und über besondere Eigenschaften wie z. B. »Charisma« verfügen würden. In Experimenten zeigten sich andere Möglichkeiten der Ausbreitung: Unter gewissen Voraussetzungen können wir »eine Gruppe schon allein dadurch führen, dass wir ein Ziel haben.« (Fisher 2010, 46)
    Bisher wurde oft davon ausgegangen, dass es sogenannte »Meinungsführer« gäbe, die zur Verbreitung von Ideen beitragen. So vertraten Elihu Katz und Paul Lazarsfeld in den 1950er-Jahren
die Theorie, dass Meinungsführer andere Menschen dadurch beeinflussen, dass sie den Medien Informationen entnehmen und an andere weitergeben. In ihrem Buch »Persönlicher Einfluss und Meinungsbildung« beschrieben die Autoren solche Meinungsführer als »Mittler zwischen den Urhebern einer Idee und dem Rest der Gesellschaft.« (Fisher 2010, 141). Auch diese Vorstellung wird durch neueste Erkenntnisse der Netzwerkforschung widerlegt: »Wenn Sie Ihren Einfluss in Ihrer Umgebung ausüben wollen, dann sollten Sie die Meinungsführer einfach vergessen und versuchen, eine kritische Masse von Menschen zu überzeugen und einen Dominoeffekt anstoßen.« (Fisher 2010, 141) Das formulierte der US-Präsident Dwight Eisenhower 1959 so: »Der Tag wird kommen, an dem die Menschen den Frieden in der Welt so sehr wollen, dass die Regierungen besser aus dem Weg gehen und sie Frieden haben lassen.«
    Vieles spricht also dafür, sich mit sozialen oder politischen Anliegen nicht primär an Politiker oder »Prominente« zu wenden, denn diese haben oft ihre eigenen Ziele und sind von Mitarbeitern abgeschirmt, so Fisher (2010, 141). Vielmehr ist es wirkungsvoll, ein Netzwerk von Gleichgesinnten aufzubauen. Dies wird durch die neuen Medien (Handy, Internet) stark vereinfacht; daraus sind völlig neue Formen politischen Handelns erwachsen. Etwa wenn sich Menschen kurzfristig über soziale Netzwerke, Mailinglisten oder Foren an öffentlichen Plätzen verabreden, um dort politische Aktionen (»Smartmobs«) durchzuführen (Postel 2010, 28).
    Die Brille linearen Denkens
    Aber wie schafft man eine »kritische Masse«? Mental-mathematisches Denken verführt dazu, sich gesellschaftliche Veränderung als eine »Entwicklung« vorzustellen, die mehr oder weniger linear geschehe, vergleichbar mit dem stetigen Wachstum
einer Pflanze oder der sich allmählich »entwickelnden« Nachfrage nach einem Produkt.

    Visualisiert wäre dies z. B. eine Graphik mit einem Zeitpfeil (Horizontale) und einer Vertikale, die für die Zahl der »Überzeugten« oder »Anhänger« einer neuen Idee steht. Die leicht aufsteigende Linie

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