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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Marks
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bezeichnet die Zahl der Menschen, die Jahr für Jahr für eine neue Idee gewonnen wurden (aufgrund einer Art Zinseszins-Effekt könnte man sich auch eine leicht nach oben gebeugte Kurve vorstellen): Dieses Jahr x Personen, nächstes Jahr x plus einige mehr (weil die Zahl der »Überzeugten« größer geworden ist und daher mehr Menschen als zuvor Überzeugungsarbeit leisten) usw.. Durch kontinuierliches Engagement, so die Annahme, wird irgendwann in der Zukunft eine entscheidende Schwelle (eine kritische Masse von Y Prozent der Bevölkerung) überschritten, und damit ist die erwartete Veränderung erreicht.
    Bei manchen Kampagnen für Frieden, Gerechtigkeit oder Naturbewahrung habe ich den Eindruck, dass im Hintergrund in etwa eine solche Erwartung steht, wie sie hier, ein wenig überspitzt, formuliert wurde: Dieses Jahr gewinnen wir soundso viele Menschen »für unsere Sache« hinzu, nächstes Jahr noch einige mehr usw., und irgendwann in der Zukunft wird unsere Idee mehrheitsfähig, und das Ziel ist erreicht.
    So geschehen gesellschaftliche Veränderungen gewiss nicht ! Sie ereignen sich vielmehr nicht-linear, unregelmäßig und unvorhersehbar, etwa wie in der folgenden Graphik:

    Für die Nicht-Linearität von gesellschaftlichen Veränderungen gibt es zahllose Beispiele, etwa die Protestbewegungen in Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien, Jemen und anderen arabischen Ländern im Jahr 2011, die noch wenige Monate zuvor ganz unvorstellbar gewesen wären. Oder der Fall der Berliner Mauer im Herbst 1989 und der Zusammenbruch der kommunistischen Staaten Osteuropas. Ein weiteres Beispiel:
    In einem kleinen Tal in den Rocky Mountains im US-Staat Idaho, einer – seit der Stilllegung des örtlichen Bergwerks – wirtschaftlich desolaten und politisch reaktionären Gegend; Ende der 1980er-Jahre. Zufällig erfährt Michael L., Besitzer eines kleinen Restaurants, vom Plan einer Firma, das ehemalige Bergwerksgelände aufzukaufen, um dort eine Verbrennungsanlage für PCB-haltige Öle aus alten Transformatoren zu bauen. Einem anfangs nur intuitiven Verdacht folgend eignet sich Michael während vieler Wochen chemisches Fachwissen an. So findet er schließlich heraus, dass PCB (polychlorierte Biphenyle) giftige, krebserzeugende Chlorverbindungen sind. Falls die geplante Anlage nicht völlig vorschriftsmäßig betrieben würde, könnten aus der geplanten Anlage Gifte wie bei den Katastrophen im italienischen Seveso 1976 oder im indischen Bhopal 1984 austreten und das Tal vergiften.
    Michael trommelt einige Freunde zusammen, um mit ihnen die Sache zu besprechen. Die kleine Gruppe beginnt, Protestbriefe zu schreiben, die Presse zu informieren, Politiker anzurufen und von Tür zu Tür gehen, um weitere Mitstreiter zu gewinnen. Die ersten sechs Wochen lang zeigen ihre Bemühungen nahezu keine Fortschritte. Plötzlich aber veränderte
sich alles, wie ein Mitglied der Gruppe, die Hausfrau Debbie H. erinnert:
    »Von einem Tag auf den anderen geschah so etwas wie ein Sprung. Es war, wie wenn der Wind plötzlich aus einer anderen Richtung wehen würde. Die Lokalzeitung, die uns bis dahin völlig ignoriert hatte, berichtete über die Sache und druckte ein Interview mit uns. Politiker aus Boise [der Hauptstadt Idahos, sm] riefen an. Ein Rechtsanwalt bot uns seine Hilfe an. Sogar die Medien aus den umgebenden Landkreisen und Bundesstaaten berichteten. Die Unterstützung innerhalb der Bevölkerung des Tales nahm mit einer unwahrscheinlichen Geschwindigkeit zu.«
    Vier Wochen später findet eine von der Gruppe organisierte öffentliche Versammlung statt. Die Turnhalle der Schule ist überfüllt mit über Tausend Menschen. Ich werde diesen ungewöhnlichen Abend nie vergessen: Die Luft ist wie elektrisch geladen. Viele der Anwesenden haben sich ein ganz erstaunliches Fachwissen angeeignet. Geduldig stellen sie sich in einer langen Schlange hinter dem Mikrophon an, um die Politiker, Wissenschaftler und Experten verschiedener staatlicher Umweltschutzeinrichtungen auf dem Podium zu befragen. Diese wissen wenig zu sagen und müssen kleinlaut zugeben, dass sie die Bewohner des Tales nicht vor einer Katastrophe wie in Bhopal würden schützen können.
    Der Bau der Anlage wurde verhindert.

2. Kairos
    Entscheidend ist der Moment in dem eine kleine Initiative (wie die besorgten Bürger im eben geschilderten Beispiel) so etwas wie einen Sprung erlebt (in der Abb. auf S. 164 als kleiner Pfeil veranschaulicht). Bis dahin hatte sie über Wochen vor sich

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