Die Kunst, nicht abzustumpfen
hin-»gedümpelt«, ohne anscheinend viel zu bewegen. Noch langwieriger war dies z. B. bei der Bürgerrechtsbewegung in der DDR: schon 1982 hatten die Leipziger Friedensgebete begonnen, gingen aber erst 1989 in die großen Montags-Demonstrationen über und wurden endlich zu einer Massenbewegung.
Solche Momente, wenn ganz plötzlich eine kleine Initiative »an Fahrt gewinnt« und zu einer breiten, machtvollen Bewegung wird, werden seit der altgriechischen Philosophie als »Kairos« bezeichnet: günstiger oder richtiger Moment. Was aber ist dieser Kairos? Ist er ein Geist (wie es der Begriff »Zeitgeist« nahelegt) oder ein geheimnisvolles Wesen? Nicht wirklich:
Kairos, Sohn des Zeus, ist Gegenspieler zu Chronos, dem griechischen Gott der Zeit. Von Chronos leiten sich Begriffe ab wie Chronometer, Chronologie und chronologische Zeit: lineare Uhr-Zeit. Im Unterschied dazu verkörpert Kairos eine Dimension der Zeit, die in der mentalen Welt oft übersehen wird; die wir nicht wahrnehmen können, solange wir befangen von der Uhr-Zeit sind. Vielleicht ist es kein Zufall, dass gerade in Deutschland Pünktlichkeit (und damit lineare Zeit) als einer der wichtigsten Werte gilt, während zugleich ein Mangel an Hoffnung besteht?
In einem Text aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. wird Kairos so beschrieben:
Wer bist du? Ich bin Kairos, der alles bezwingt!
Warum läufst du auf den Zehenspitzen? Ich laufe unablässig.
Warum hast du Flügel am Fuß? Ich fliege wie der Wind.
Warum trägst du in deiner Hand ein Rasiermesser?
Den Menschen zum Zeichen, dass ich schärfer trenne als jede
Schneide der Welt.
Warum fällt dir eine Haarlocke in die Stirn?
Damit mich ergreifen kann, wer mir begegnet.
Warum hast du einen kahlen Hinterkopf?
Bin ich mit fliegenden Füßen erst einmal vorbeigelaufen,
wird mich keiner
von hinten ergreifen, sosehr er sich auch bemüht.
Und wozu schuf dich der Künstler? Euch Wanderern zur
Belehrung.
Poseidippos von Pella
Dem Kairos entspricht in der jüdisch-christlichen Tradition der Moment, in dem Gott in das Menschheits-Geschehen eingreift und diesem eine überraschende Wende gibt; dies wird in den schon zitierten Stellen bei Moses und Jeremia II so angekündigt:
Und der Herr sprach: Ich habe gesehen das Elend meines Volkes in Ägypten und habe ihr Geschrei gehört über die, so sie drängen; ich habe ihr Leid erkannt. Und Gott erhörte ihr Wehklagen und gedachte an seinen Bund mit Abraham, Isaak und Jakob.
Moses 2, 23–24
Sag den Städten in Juda: Seht, da ist euer Gott. Seht, Gott der Herr, kommt mit Macht.
Jesaja 40: 10
Plötzlich, aufgrund des Eingreifens von Gott (bzw. Kairos) geschieht etwas völlig Unerwartetes, Neues , was zuvor nicht denkbar schien. Geschichte nimmt einen überraschend anderen Verlauf. Wie Jim Wallis (1995, 309) schreibt, drehen solche Ereignisse »den Spieß der Geschichte um; sie stellen die Welt auf den Kopf. (…) Das Schloss sogenannter historischer
Notwendigkeit und Determiniertheit ist geknackt, und wieder offenbart sich eine Welt neuer Möglichkeiten.«
Geschichte ist nicht zu Ende, sondern plötzlich wieder offen, Unvorhergesehenes ist möglich. Diese Einsicht in die Nicht-Linearität von sozialem Wandel bedeutet allerdings nicht, dass wir Menschen uns nur zurücklehnen können, um passiv auf Gott bzw. den »richtigen Moment« zu warten; aus drei Gründen, die in den folgenden Abschnitten dargelegt werden: Erstens müssen günstige Momente vorbereitet sein. Zweitens bedarf es der Fähigkeit, den Kairos-Moment zu »merken« und ihn, drittens, so gut wie möglich zu nutzen. Das bedeutet, dass wir für die Möglichkeit bereit sein sollten, dass sich innerhalb kurzer Zeit alles ändern könnte.
Vorbereiten
Kairos, der richtige Zeitpunkt, muss vorbereitet sein. So wäre, wie schon erwähnt, z. B. der Fall der Mauer 1989 nicht möglich gewesen ohne die vorangegangenen jahrzehntelangen Aktivitäten von DDR-Bürgerrechtlern, die, für sich betrachtet, jeweils vielleicht unbedeutend anmuteten. Auch der bundesrepublikanische Ausstieg aus der Atomenergie 2011 hätte nicht geschehen können ohne die jahrzehntelangen Anstrengungen der Anti-AKW-Bewegung. Wie Martin Luther King jr. (1966) formulierte, »rollt Veränderung nicht auf den Rädern der Unvermeidlichkeit herein, sondern kommt durch fortgesetztes Bemühen. Und so müssen wir unsere Rücken aufrichten und für unsere Freiheit arbeiten.«
Die Zeit, die es braucht, um beharrlich einen gesellschaftlichen Wandel
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