Die Kunstjaegerin
neue Theorie, die uns vielleicht weiterhilft«, ergriff Boris das Wort.
Er stand auf und holte, wie vor zwei Tagen, einen Papierstapel.
»Habt ihr euch nicht Gedanken darüber gemacht, was Galileo auf dem Gemälde zu suchen hat? Meine Überlegung ist, dass die ›Krönung‹ so etwas wie die ›Schule von Athen‹ sein könnte.«
»Das Fresko von Raffael im Vatikan?«, fragte Flora und strich sich einen Weißbrotkrümel von der Lippe.
»Genau«, Boris deutete auf die erste Abbildung in seinen Unterlagen. »Ich habe, ähm, wieder ein paar Dinge vorbereitet.
Hier ist sie, die ›Schule von Athen‹. Und da sind die Lehrer: Platon, Aristoteles, Pythagoras, Diogenes, Sokrates. Sie stehen für die herausragende Philosophie des anti-ken Griechenlands.«
Er gab jedem eine Mappe und erklärte, dass er bei Theresas Bild eine ähnliche Bedeutung vermutete. »Weshalb sollte Galileo – vorausgesetzt, er ist es wirklich – bei einer Krönung anwesend sein?
Bestimmt nur, wenn jemand auf den Thron gehoben wird, der ihm wichtig ist. Beziehungsweise etwas . Und das Wichtigste in Galileos Leben war die Wissenschaft. Man könnte das Gemälde folglich als Allegorie verstehen. Die ›Krönung‹ als Gleichnis dafür, dass die Wissenschaft der neue Herrscher der damaligen Welt werden würde.«
»Wow! Was man in so eine Darstellung alles hineininter-pretieren kann. Das klingt total illuminatisch!«, sagte Flora.
»Genau. Und der Auftraggeber eines Bildes, das den Triumph des Wissens über den Glauben zeigt, könnte Bonaventura Igowski gewesen sein. Ihr erinnert euch an meine Genealogie? Eine Familie von Gelehrten und Künstlern«, fuhr Boris fort. Alle nickten beeindruckt.
»Und wer sind die anderen Männer deiner Meinung nach?«, fragte Theresa.
»Wenn ich künstlerische Freiheit ins Spiel bringe, dann sehe ich neben Galileo Kepler, Kopernikus, Brahe und Viviani«, antwortete Boris.
Das Gemurmel der Freunde wurde lauter. Leon, der aus dem Kinderzimmer gekommen war, nahm sich schnell einen Ausdruck, während Boris begann, jede einzelne Figur zu erklären.
»Der hier mit dem blauen Mantel, der der Wissenschaft die Krone aufsetzt, ist Kepler. Der Kniende, der die Kette umlegt, hat das gleiche Walrossbärtchen wie Tycho Brahe. Und da ist noch der Mann ganz rechts mit dem roten Umhang, der dem neuen Herrscher ein Zepter in die Hand drückt. Er ist wie Kopernikus bartlos und hat eine ähnliche Nase. Galileo mit der roten Mütze wurde ja bereits von Thesi identifiziert. Neben ihm steht ein hübscher Jüngling, der sein Assistent Vincenzo Viviani sein könnte.
Er war 17 Jahre alt, als er für Galileo zu arbeiten begann. Das würde also passen.«
Die anderen waren sprachlos und steckten die Köpfe über den Kopien zusammen. Auch Theresa musste diese Informationen erst einmal verdauen. Sie nahm einen Ausdruck und betrachtete ihn.
Die vier alten Gelehrten, der junge Viviani und der König als Personifizierung der Wissenschaft – nur diese sechs Figuren waren sorgfältig ausgearbeitet, die anderen wirkten wie flüchtig skizziert.
Vier bedeutende Astronomen, die ihre Wissenschaft krönten, mit der Jugend als Nachfolger an der Seite. Diese Zuordnung konnte stimmen!
»Eine schöne Interpretation. Aber wer sind die zwei Priester und wieso sind die Männer im Hintergrund bewaffnet?«, fragte Flora.
»Vielleicht weil die neuen Erkenntnisse gegenüber der reaktionären Kirche mit Waffengewalt durchgesetzt werden müssen?«, überlegte Paul.
»Oder sie sind Mitglieder eines Geheimbunds, der einen Aufstand plant«, warf Flora ein. »Eine Wissenschaftsreformation oder Revolution. Der Orden der Igowskis zieht mit wehenden Fahnen in den Kampf für die Aufklärung. Wissen an die Macht!«
Theresa erinnerte sich an das Begräbnis. Die wehenden Mäntel.
Die Kreuzritter am Igowski-Grab. Sie hatte sich damals also nichts eingebildet. Und war vielleicht ihr Vater, der Universalinteressierte, der Flugzeugbauer, der Antiquitätensammler, ein Mitglied dieses Geheimbunds gewesen und der letzte Hüter der ›Krönung‹? Nein, das konnte nicht sein, er hatte mit Ambrosius getauscht. Oder war das alles eine Vertuschungsaktion gewesen?
»Die Kette, die der Wissenschaft umgehängt wird, könnte eine Art Goldenes Vlies sein«, hörte Theresa Paul sagen, der auf die Fotokopie deutete. »Statt des Widders wäre ein kleines Fernrohr als Symbol für die Wissenschaft denkbar.« Alle starrten gebannt auf die Kette, doch der Computerausdruck war zu
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