Die Kurtisane des Teufels
dass damit William White gehängt worden war, der Mörder von Mistress Knap. Wild selbst hatte ihn gestellt und vor Gericht gebracht. Es gab sogenannte Diebeshaken zum Öffnen verschlossener Türen, Brechstangen, die er als »Jordan«, »Schabber« oder »Krummkopf« bezeichnete, verschiedene Messer, die einmal diesem oder jenem Gauner gehört hatten, Pistolen, die Wild Straßenräubern abgenommen hatte, sowie blutige Kleidungsstücke, die ihn auf die Spur eines Verbrechens gebracht hatten.
Nachdem die Führung abgeschlossen war, geleitete er Kitty in seine Studierstube zurück und schenkte ihr und sich selbst ein Glas Wein ein.
»Nun, Mistress Marshall«, sagte Wild auffordernd. »Weshalb seid Ihr hier? Geht es um einen Diebstahl oder einen Einbruch?«
Um Haltung bemüht, nahm Kitty einen Schluck von dem schweren Rotwein, der ihr rasch zu Kopf stieg.
»Ich bin Thomas Marshalls Schwester«, erklärte sie schließlich.
Wild lehnte sich in seinem Polsterstuhl zurück und faltete die Hände im Schoß.
Sein Blick musterte sie prüfend, doch er zeigte keine Überraschung. »Ihr seid noch nicht lange in London?«
»Nein«, erwiderte Kitty, »ich bin erst gestern aus Stamford angekommen. Zu meinem Entsetzen musste ich erfahren, dass mein Bruder wegen Straßenraubs gehängt worden war.« Auf einmal konnte sie sich nicht länger beherrschen und rang erregt die Hände. »Aber das kann nicht sein! Mein Bruder war ein unbescholtener, ehrlicher Mann. Da muss ein Irrtum vorliegen!«
Wilds Züge verrieten Mitgefühl. »Es tut mir leid, dass Ihr bei Eurer Ankunft diese schreckliche Nachricht erhalten habt. Bedauerlicherweise entspricht sie der Wahrheit. Ich selbst habe Tom Marshall nach einem Überfall auf eine Kutsche im Hyde Park festgenommen und das Diebesgut bei ihm gefunden.«
»Aber das ist unmöglich!«, rief Kitty unbeirrt. »Thomas wusste nicht einmal, wie man eine Pistole abfeuert.«
»Madam, Ihr müsst einsehen, dass Euer Bruder nicht mehr derselbe Mann war, den Ihr von früher kanntet. Nicht jedem, der aus der Provinz nach London kommt, gelingt es, hier sein Glück zu machen. Tom Marshall geriet in schlechte Gesellschaft. Er ließ sich mit Obadiah Lemons Bande ein und versank immer tiefer im Sumpf des Verbrechens. Früher oder später musste er am Galgen enden.«
»Nein«, schrie Kitty. Sie fuhr von ihrem Stuhl auf. »Das werde ich nie glauben.« Der schwere Wein hatte ihr Blut in Wallung gebracht und ließ sie jegliche Vorsicht vergessen. Ganz gleich, wie viel Mühe sich Wild gab, sie vom Gegenteil zu überzeugen, sie wusste einfach, dass Thomas sich nicht mit Gaunern eingelassen hätte. Die Behauptungen des Diebesfängers mussten Lügen sein!
»Ich werde die Wahrheit herausfinden«, sagte sie entschlossen. Ihre Augen sprühten Funken. »Und ich werde alles daransetzen, den Namen meines Bruders reinzuwaschen. Irgendjemand wird wissen, was wirklich passiert ist.«
Die Tür der Studierstube wurde geöffnet, und der Lakai, der sie eingelassen hatte, blickte prüfend herein, ob sein Herr Hilfe benötigte. Wild erhob sich und sagte mit kalter Ruhe: »Führ Mistress Marshall hinaus, Michael.«
6
Noch immer zitternd vor Erregung stand Kitty vor dem Haus des Diebesfängers. Die Tür hatte sich hinter ihr geschlossen und zeugte nur zu deutlich davon, dass sie nicht länger willkommen war. Jonathan Wild hatte keinen weiteren Versuch unternommen, Thomas’ Verhaftung zu rechtfertigen. Allerdings hatte ein Mann in seiner Position dies auch nicht nötig. Was scherte es ihn, ob sie ihm glaubte? Und doch wurde Kitty das Gefühl nicht los, dass er etwas zu verbergen hatte. Seine Behauptung, er habe das Diebesgut bei ihrem Bruder gefunden, musste eine Lüge sein. Aber weshalb sollte er lügen? Was hätte er davon, einen unschuldigen Mann an den Galgen zu bringen? Vielleicht hatte der wirkliche Straßenräuber Thomas die Beute untergeschoben? Ihr Bruder war naiv genug gewesen, um auf eine rührselige Geschichte hereinzufallen und selbst einem Fremden aus Mitleid einen Gefallen zu tun, ohne Fragen zu stellen. Sie würde der Wahrheit auf den Grund gehen, ganz wie sie es Wild prophezeit hatte.
Die Abendsonne war noch nicht untergegangen, doch die Wolkendecke, die sie verbarg, war so dicht, dass sich die Dämmerung bereits über die Gassen zu senken schien. Rasch ausschreitend ging Kitty die Little Old Bailey entlang. Als die Kirche St. Sepulchre vor ihr auftauchte, bog sie nach links in die Hart-Row Street ein, die in den
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