Die Kurtisane des Teufels
ich im Auftrag des Ordinarius die Lebensgeschichten der Galgenvögel verkauft. Und auch wenn mir nun, da ich mein Augenlicht verloren habe, der Weg nach Tyburn zu weit ist, bin ich immer noch über die Hinrichtungen auf dem Laufenden.«
»Das verstehe ich nicht«, murmelte Kitty nachdenklich.
»Es könnte doch sein, dass Susannah Harker zwar zum Galgen verurteilt worden ist, das Urteil jedoch später zur Deportation nach Virginia abgemildert wurde«, spekulierte Harry. »Dies geschieht zurzeit recht häufig. In den Kolonien werden dringend Arbeitskräfte gebraucht, und so schickt man die Gauner lieber dorthin, als sie aufzuknüpfen.«
Kitty war erleichtert. Einerseits grollte sie Susannah, weil sie ihr schadenfroh die Wahrheit über Daniel erzählt hatte. Andererseits schämte sie sich dafür, ihr den Tod gewünscht zu haben.
13
Mitte April wich der strenge Winter endlich einem verregneten Frühling. Betty entwickelte einen langwierigen Husten, der sie oft nach Atem ringen ließ. Gleichwohl ging sie jeden Morgen unermüdlich in Kittys Begleitung auf den Markt, um nach gut verkäuflichen Nahrungsmitteln Ausschau zu halten. Nach und nach lernte die junge Mutter die verschiedenen Kniffe ihres Handwerks. Wenn die Fische, die sie verhökern wollten, bereits unansehnlich geworden waren, erstand Betty beim Fleischer eine Kanne frisches Blut und bestrich die Kiemen damit. Ebenso verfuhr sie mit verdorbenem Fleisch, um den Eindruck zu erwecken, dass das Tier frisch geschlachtet war.
Eines Morgens hatten die Obst- und Gemüsehändler von Covent Garden bereits all ihre gute Ware verkauft, als Betty und Kitty auf dem Markt eintrafen. Nach einigen ausgiebigen Flüchen rieb sich die Hausiererin nachdenklich das Kinn. Dann winkte sie dem Mädchen, ihr zu folgen. Unter Einsatz all ihres Charmes schwatzte Betty dem Geflügelhändler eine Kiste verdorbener Eier ab, die dieser nicht hatte verkaufen können, und sammelte faule Äpfel und Kohlblätter vom Boden auf.
»Wer soll uns das abnehmen?«, erkundigte sich Kitty verständnislos.
»Wirst schon sehen, Schätzchen«, erwiderte die Hökerin fröhlich. »Es gibt noch vieles, das du lernen musst.«
Zielstrebig schob Betty ihren gefüllten Handwagen in die Southampton Street und dann den Strand entlang bis nach Charing Cross. Dort begann sich eine Menschenmenge zu versammeln. Aus den umliegenden Straßen strömten die Leute der Mitte der Kreuzung zu. Neugierig reckte Kitty den Kopf, um zu sehen, was die Menge so magisch anzog. Unter dem Blick der von einem Eisenzaun umgebenen Reiterstatue Charles’ I. erhob sich ein Podest, auf dem ein doppelter Pranger stand. Eben führten mehrere Büttel zwei Männer die wenigen Stufen hinauf und spannten ihre Köpfe und Handgelenke in die hölzernen Riegel ein, so dass der eine an den Strand, der andere in Richtung Whitehall blickte.
»Beeilen wir uns«, drängte Betty ihre Begleiterin und bahnte ihnen einen Weg durch die Menschenmenge.
Auf dem Podest verlas der Konstabler die Vergehen, die die beiden Männer begangen hatten. Der eine hatte eine Schmähschrift gegen die Regierung verfasst, der andere ohne Lizenz aufrührerische Bücher gedruckt.
Als sich Betty zum Pranger vorgedrängt hatte, begann sie mit lauter Stimme ihre Ware anzupreisen: »Verdorbene Eier, faule Äpfel! Schlagt zu, Leute, solange der Vorrat reicht. Kohlblätter, faule Äpfel!«
Begeistert rissen ihr die in vorderster Reihe stehenden Schaulustigen das verwelkte Gemüse und die stinkenden Eier aus der Hand und versuchten dann, mit mehr oder weniger Erfolg die Köpfe der Verurteilten zu treffen. Obwohl Kitty das Schauspiel anwiderte, pries auch sie die Wurfgeschosse an. Ihr eigenes Überleben und das ihres Kindes hing davon ab, dass sie wenigstens genug Geld für eine Mahlzeit und ein Obdach verdienten. Am Ende reichte es für einen Laib Brot und eine Nacht in Mistress Farrells Logierhaus.
»Ich fürchte, ich muss Helens Windel wechseln«, sagte Kitty naserümpfend, als sie ihre Tochter auf dem Strohsack ablegte. Trotz der übel riechenden Luft in der mit ungewaschenen Leibern gefüllten Kammer war ihr der unverkennbare Geruch in die Nase gestiegen. Mit routinierten Handgriffen wickelte sie das Kind aus dem schützenden Kokon der Leinenstreifen, die seine zarten Glieder umhüllten. Sie besaß nur zwei Tücher, die abwechselnd als Windeln dienten. Mit einem Seufzen betrachtete Kitty die von Flohbissen übersäte Haut ihrer Tochter. Aber es gab nichts, was sie gegen das
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