Die Kurtisane des Teufels
»Man sagte mir, sie ist immer an deiner Seite.«
»Fahr zur Hölle«, stieß Taylor zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
Wild winkte seinen Männern, ihn wegzubringen.
»Seid Ihr verletzt, Mr. Wild?«, fragte einer seiner Leute.
»Wird wahrscheinlich ein Bluterguss, als hätte mich ein Pferd getreten«, meinte der Diebesfänger leichthin. Doch sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. »Habt Ihr eine Spur von Stott gefunden, Mendez?«, erkundigte er sich.
»Nein, Sir, bisher nicht.«
»Bringt mir die Lampe!«
Mendez tat, wie geheißen, und übergab seinem Herrn die Lichtquelle. Wild hob sie hoch und ließ den Blick über die Männer und Frauen gleiten, die unbeteiligt auf ihren Strohschütten lagen, als sei nichts geschehen. Dann fiel das Licht der Kerze auf Kitty. Wilds Augen richteten sich auf sie, bohrten sich bis tief in ihr Herz. Unwillkürlich senkte sie den Kopf und starrte auf ihre Hände, verkrampfte die Finger ineinander, um ihr Zittern zu verbergen. Die Schritte, die sich ihr unaufhaltsam näherten, dröhnten wie Donnerschläge in ihren Ohren. Schließlich traten mit Silberschnallen geschmückte Schuhe in ihr Sichtfeld. Der Diebesfänger war vor ihr stehen geblieben.
»Sieh mich an, Weib!«, befahl Jonathan Wild.
Von der Höflichkeit und dem Charme, den er bei ihrer ersten Begegnung an den Tag gelegt hatte, war nichts geblieben. Stur hielt Kitty den Kopf gesenkt, obgleich sie wusste, dass es sie nicht retten würde. Wild gehörte nicht zu den Menschen, die sich von ihrem Ziel abbringen ließen.
»Ich sagte, sieh mich an!«, wiederholte der Diebesfänger gereizt.
Als sie nicht gehorchte, beugte sich Mendez zu ihr hinab, packte ihre Arme und zog sie energisch auf die Füße. Kitty wehrte sich nicht. Es hätte keinen Sinn, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Selbst wenn es ihr gelänge, an den beiden Männern vorbeizukommen, warteten am Fuße der Leiter immer noch Wilds Leute. Sie riefen bereits ungeduldig nach ihrem Anführer. Offenbar wussten sie ohne seine Anweisungen nicht, was sie tun sollten.
Mendez hielt Kittys Arme fest umklammert, um sie daran zu hindern, sich loszureißen, und schob sie voran, bis sie Jonathan Wild gegenüberstand. Der Geruch nach Tabak, der seine Kleidung durchsetzte, wehte ihr in die Nase. Eine rauhe, kräftige Hand legte sich unter ihr Kinn und zwang sie, den Kopf zu heben.
Schließ die Augen!, sagte sie zu sich selbst. Vielleicht erkennt er dich dann nicht.
Doch ihre Lider wollten ihr nicht gehorchen. Trotzig blickte sie den Mann an, der ihren Bruder auf dem Gewissen hatte und den sie dafür aus tiefster Seele hasste. Las er ihre Gefühle von ihrem Gesicht ab? Schweigend musterte er sie im Schein der Lampe, die er in der Hand hielt. Dann schüttelte er enttäuscht den Kopf.
»Lass sie los«, wies er seinen Handlanger an. »Das ist nicht Fanny Stott.«
Abfällig stieß Mendez sie von sich, so dass sie gegen die Wand taumelte. Als sie sich umwandte, hatten die Männer sich bereits in Richtung Luke entfernt.
Kittys Herz schlug zum Zerbersten. Vor ihren Augen wallten schwarze Schleier. Unsicher tastete sie nach einem Halt und atmete tief die verbrauchte Luft ein, bis sich ihr Blick klärte. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Jonathan Wild hatte sie nicht erkannt! Freilich hatte sie sich seit ihrer letzten Begegnung vor fast einem Jahr sehr verändert. Der Hunger hatte sicherlich Spuren in ihrem Gesicht zurückgelassen, das zudem mit Dreck beschmiert war, und ihr einst lockiges blondes Haar fiel ihr grau und strähnig in die Stirn.
Die Erleichterung, die sie verspürte, weil sie sich fortan nicht mehr vor dem Diebesfänger in Acht nehmen musste, mischte sich mit der bitteren Erkenntnis, dass sie nun endgültig in den Sumpf der Namenlosigkeit hinabgesunken war. Eines Tages, wenn sie den Kampf gegen Hunger und Elend verlor, würde man sie wie so viele andere Bettler in einem der Massengräber auf dem Armenfriedhof verscharren, in denen nur eine Holzlatte einen Leichnam vom anderen trennte, ohne Grabstein, ohne Trauerfeier.
14
Ein quälender Husten erschütterte Bettys Brust. Besorgt beobachtete Kitty, wie die Hökerin gelben Schleim auf das Pflaster spie und sich dann schwer atmend auf ihren Handkarren lehnte. An diesem Tag hatten die beiden Frauen ihren Rundgang abkürzen und bereits zur Mittagszeit nach Covent Garden zurückkehren müssen. In den Gassen von St. Giles war die Hölle los. Die Lehrlinge des Sprengels von St. Anne hatten Streit mit den dortigen
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